Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 3 Minuten

Auf der Fährte

Ich laufe dem Müllwagen hinterher. Zwei Männer in leuchtend orangefarbenen Gilets halten sich an Stangen fest, einer links mit einem sichtbaren Bierbauch, der andere rechts mit einer schwarzen Baseballkappe auf dem Kopf. Wenn der Lastwagen schwerfällig vom Trottoir hinunterplumpst, bewegen sie sich synchron wie Bäume im Wind.

Alle zwanzig Meter hält das Fahrzeug an und die Arbeiter sammeln die Container oder dunkelgrauen Plastikbehälter vor den Hauseingängen ein, platzieren sie auf dem Podest, drücken einen Knopf und lassen sie von glänzenden Roboterarmen hochheben. Es ist heiss, die Sonne brennt und ich lache. Ich möchte nicht sehen oder hören, wie die Abfallsäcke in den Rachen des Lastwagens fallen. Ich folge vielmehr der olfaktorischen Spur des Abfalls.

Mit der Nase in der Luft schnuppere ich den säuerlichen Gestank der Essensreste, wie eine gierige Möwe, die einem Fischkutter folgt.

Leben ohne Geruchssinn

Bei meiner ersten Coronaerkrankung habe ich meinen Geruchssinn drei Tage lang ganz verloren. Dann kamen die Gerüche allmählich zurück, zunächst als wären sie in Watte eingepackt und schwieriger zu erreichen.

Eine Zeitlang hatte ich sogar Basilikumblätter in meinen Hosentaschen, damit ich den Geruchssinn trainieren konnte.

Alle paar Wochen hatte ich einen rauchigen Geschmack mit metallischem Abgang im Rachen. Ich genoss dann zwar meine Mahlzeiten, nicht aber im gleichen Ausmass wie früher.

Irgendwann fokussierte ich mich nicht mehr auf diesen Mangel. Ich konnte schwer abschätzen, inwieweit meine Nase wieder in Ordnung war. Nach einer subjektiven und unwissenschaftlichen Schätzung bezifferte ich meine olfaktorische Performance auf ca. 80% des ursprünglichen Zustands.

Das ist natürlich gaga, weil man Gerüche und ihre Intensität nicht objektiv messen kann, als wären sie mathematisch korrekte Formeln.

Welche Realität haben Gerüche?

Wenn meine Tochter meinte: «Igitt, es stinkt hier!», und ich frischen Teer am Strassenrand sah, fühlte ich mich noch ein halbes Jahr nach der Erkrankung ertappt, als wäre mein Leben eine Lüge, zumindest vom Geruchssinn aus geschnuppert. Welche Gerüche sind real? Nur das, was ich in meinem Kopf abgespeichert habe, oder das, was ich jetzt rieche? Und rieche ich dasselbe, was andere Menschen auch tun? Mit derselben Intensität?

Wie lassen sich Gerüche im Gehirn komponieren, und zwar so, dass ihre Identität einzigartig bleibt?

Werde ich bestimmte Erinnerungen nicht mehr hervorrufen können, wenn ich Gerüche nicht mehr riechen kann? Wann werde ich ihre Echtheit nicht mehr hinterfragen, wo liegt genau die Grenze zwischen realem und unechtem Geruch?

Dies waren allesamt Fragen, die ich mir vorher nie gestellt hatte.

Nun laufe ich dem Lastwagen hinterher, weil ich den Gestank in der Luft fast so intensiv wie früher rieche. Ich versuche die Nuancen des Abfalls zu erschnüffeln und irre bescheuert im Quartier umher, als wäre ich neben der Spur. Dies ist meine eigene Prozession mit einem klaren Ziel: Die Rückkehr zur Normalität. Dass meine beobachtenden Nachbaren diese Meinung mit mir teilen, bezweifle ich.

 

Photo by Peter Ivey-Hansen on Unsplash

2 Kommentare zu „Auf der Fährte“

  1. Johanna Di Blasi

    Wundervoll feiner, literarischer Text. Danke Luca! Und weit mehr als nur eine Meditation über Schnuppern. Sondern eben über das in der Welt sein und immer diese Mischung von real Gegebenem und subjektiv Erfahrenem und der diffusen Grenze dazwischen. (Was sind das für Roboterarme? Hab ich nie gesehen.)

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

RefLab regelmässig in deiner Mailbox

RefLab-Newsletter
Podcasts, Blogs und Videos, alle 2 Wochen
Blog-Updates
nur Blogartikel, alle 2 bis 3 Tage