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 Lesedauer: 8 Minuten

Die post-pandemische Welt: Zurück auf Feld eins?

Letzte Woche wurde bekannt, dass die Initiative für ein bedingungsloses Grundeinkommen schon vor Ablauf der Sammelfrist gescheitert ist. Ich bin überrascht, dass es nicht einmal zur Abstimmung kommt: Vor wenigen Jahren stimmte eine halbe Million Stimmberechtigter bei der ersten solchen Initiative «Ja», und nun kamen nicht mal 100’000 Unterschriften zusammen.

Es ist ein Rückschlag für die Diskussion um gerechtere Arbeitsformen.

Während der Pandemie hatte diese neue Fahrt aufgenommen: Freiberuflich Arbeitende und Künstler:innen kamen in Existenznöte, Sinn und Anerkennung verschiedener Wirtschaftszweige schienen neu bewertet zu werden.

Veränderung lag in der Luft

Von letzterem ist nicht mehr viel zu spüren: Obwohl etwa die Pflege-Initiative angenommen ist, sind Krankenhäuser wieder am Limit. «Schweizer Spitäler stehen vor dem Kollaps», sagte der oberste Schweizer Notfallchef vor einer Woche.

In England sterben Menschen, weil sie zu viele Stunden auf den Rettungswagen warten müssen. In China wütet das Covid-Virus aktuell, und gleichzeitig müssen Impfdosen, deren Haltbarkeitsdatum überschritten wurde, weggeworfen werden.

«Wir entscheiden jetzt alle gemeinsam darüber, wer wir sein werden, wenn diese Krise vorbei ist», schrieb Stephan Jütte in einem RefLab-Artikel vom März 2020. Kontext war die Begrenzung der Todesfälle und schweren Verläufe. Es ging darum, ob wir bereit sind, uns einzuschränken, um nicht das Leben vulnerabler Menschen aufs Spiel zu setzen.

Doch der Satz fasst auch die Ausnahmestimmung zusammen, die damals wohl viele empfanden: «Wir entscheiden jetzt alle gemeinsam darüber, wer wir sein werden, wenn diese Krise vorbei ist.» Wie unsere Gesellschaft sein wird.

«Krise als Chance», war oft zu hören. Das klang in vielen Ohren zynisch und wurde auch kritisiert. Doch im Rückblick war der Stillstand tatsächlich auch ein möglicher Wendepunkt:

New Work lag in der Luft, gesundere Werte und menschlichere Prioritäten, ein neuer, ganzheitlicher Fokus auf unsere Gesundheit.

Ein Reset für den CO2-Ausstoss zeichnete sich ab, neue Wertschätzung für die «systemrelevanten» Berufsgruppen, Solidarität mit besonders vulnerablen Menschen.

Es waren grosse Hoffnungen da, dass bei all dem menschlichen Leid wenigstens Chancen für positive Veränderungen nicht ungenutzt verstreichen würden. Das Momentum war da, zivilgesellschaftliche Initiativen in den Startlöchern.

Die Delfine sind längst wieder verschwunden

Nun stellt sich heraus: Wir sind nicht so innovativ, solidarisch und veränderungsbereit, wie wir gedacht hatten. Und daran sind nicht mal die Verschwörungstheoretiker:innen schuld, auf die in der Pandemie gezeigt wurde, sondern die grosse Mehrheit.

Mit leicht bedauerndem Unterton wird in den Nachrichten informiert, dass die Zahl der Flugpassagiere zwar fast, aber noch nicht ganz wieder auf Vor-Pandemie-Level ist.

In Deutschland wird weiter im grossen Stil Kohle abgebaut, womit das 1,5-Grad-Ziel ausser Reichweite gelangt.

«Rückkehr der Delfine», hiess das Buch, das wir als RefLab mit unseren Blogbeiträgen aus dem ersten Corona-Jahr herausgegeben haben. Delfine kehrten zurück in die Bucht von Venedig – und sind längst wieder verschwunden.

Long Covid-Patient:innen leiden im Stillen und vulnerable Menschen sind wieder auf sich alleine gestellt. Die Reichen sind noch reicher geworden – um ein Vielfaches –, und die Armen noch ärmer.

Zwei Jahre Ausnahmezustand haben wenig geändert

Die meisten Menschen in der Schweiz haben das Gefühl, glimpflich davongekommen zu sein. Dies, obwohl weltweit knapp 7 Millionen Menschen starben und eine unbekannte Anzahl immer noch neu erkranken oder an Langzeitfolgen leiden. «War ja alles halb so schlimm», so die Stimmung heute.

Wir Menschen sind Gewohnheitstiere.

Zwei Jahre Ausnahmezustand reichen nicht, um grundlegend etwas an der Gesellschaft, in der wir leben, zu ändern.

Die Pandemie mag zwar individuell ein grosser Einschnitt in unserem Leben gewesen sein, an den wir uns lange erinnern werden. Viele Menschen waren – oder sind immer noch – auch direkt gesundheitlich betroffen. Aber für die Menschheitsgeschichte war sie nur ein kleines Tief.

Der erhoffte Neubeginn nach dem Stillstand blieb aus. Zu langsam mahlen die Mühlen der Politik, zu mächtig sind die Lobbys der Konzerne.

Es ist ernüchternd. Und vermutlich bei genauerer Betrachtung nicht mal so überraschend, wie es mir als manchmal etwas naive Optimistin vorkommt.

Was nun? Nach uns die Sintflut? Ohne was gelernt zu haben, in die nächste Katastrophe? Vermutlich.

Stopp.

Dieser Blogpost sollte eigentlich, so war es geplant, eine konstruktive Wende nehmen. Ich hatte gehofft, dass mir beim Schreiben klar werden würde, dass sich doch Dinge geändert haben. Nun klingt das alles aber auch in meinen Ohren ziemlich hoffnungslos. Das Nachdenken darüber hat meine Resignation nur noch bestärkt.

Ein kleiner Schimmer strahlt noch zwischen meine Zeilen: Möglicherweise – könnte es sein? – bewegt sich ja doch was. Aber einfach viel langsamer, als ich erhofft hatte. Unser Alltag ist so schnelllebig, womöglich nehmen wir langsamere Veränderungen nicht im gleichen Ausmass wahr.

Könnte da was dran sein?

Nun kann ich das nicht belegen, denn ich bin keine Psychologin. Deswegen habe ich einen kontaktiert: Bensch Sager, Innovationspsychologe und Humortrainer.

Er gibt mir drei wertvolle Insights:

1. Menschen sind negativ gestrickt

«Ungefähr 70 % unserer Gedanken als Menschen sind in die Zukunft gerichtet. Und ungefähr 70 % unserer Gedanken sind negativ», erklärt er mir. «Das heisst, wir verbringen viel Zeit damit, uns negative Szenarien auszumalen und zu sehen, was alles schlecht ist um uns herum.»

Das sei nicht per se schlecht, sondern einfach der «Autopilot» unseres Gehirns: «Das Gehirn ist nun mal eine Problemlösungsmaschine.» Dazu komme die verzerrte Wahrnehmung der Realität durch die Medien, denn Negativschlagzeilen und Angst auslösende Stories sorgen für mehr Klicks.

Der inzwischen verstorbene Gesundheitsprofessor Hans Rosling aus Schweden habe mithilfe von zahlreichen Statistiken und Studien gezeigt, dass vieles auf der Welt positiver sei, als es uns erscheine. Auf der Website des von ihm initiierten Projekts «Gapminder» lassen sich Testfragen durchklicken, die einem den eigenen Pessimismus eindrücklich vor Augen führen.

2. «Shifting Baselines»

Bensch Sager führt eine weitere Theorie ins Feld: Die Theorie der «Shifting Baselines» von Harald Welzer. «Sie besagt, dass wir sich verändernde Normen irgendwann als normal wahrnehmen.» Dies bedeute auch, dass langsame Prozesse nicht die gleiche Aufmerksamkeit erzielen wie schnelle Veränderungen.

Oft werde diese Theorie für negative Entwicklungen angeführt – wir kennen alle das Beispiel des Frosches im Wasserkocher, der nicht merkt, wie es langsam heisser wird und er eigentlich in Lebensgefahr schwebt. «Shifting Baselines» gelte aber genauso für positive Entwicklungen, so Sager.

Oder haben Sie die Nachricht von Anfang Januar, dass das Ozonloch im Begriff ist, sich zu schliessen, mitgekriegt und gebührend gefeiert?

3. Wir brauchen hoffnungsvolle Narrative

Wichtig sei, so Bensch Sager, sich dieser angeborenen dunklen Brille bewusst zu sein und dieser Tendenz aktiv entgegenzuhalten. Also Gedanken zu fördern, die positiv seien, Orte zu schaffen, an denen man Freude und Hoffnung empfindet, und auch den positiven Fakten zu glauben.

Und dann ruft der Psychologe mir als Theologin die biblische Botschaft in Erinnerung. «Christenmenschen glauben, dass die Zukunft uns nicht einfach passiert, sondern wir im Sinne des ‹Himmelreiches› mitgestalten und ein Teil der Lösung werden können», so Sager.

Sich in solchen hoffnungsvollen Narrativen zu verorten, ist gerade in Anbetracht der Negativtendenz unseres Gehirns wichtig.

Also alles gut?

Jein – zwar konnte mir Psychologe Bensch Sager meine Vermutung bestätigen, dass wir Menschen langsame Veränderungen und positive Entwicklungen weniger wahrnehmen als schnelle Veränderungen und Negativschlagzeilen. Er gab mir aus seiner professionellen Sicht Grund zum vorsichtigen Optimismus.

Für mich könnte das heissen, die gescheiterte Grundeinkommens-Initiative zwar wahrzunehmen, meinen Fokus aber auch auf andere laufende Entwicklungen zu legen. Etwa, dass alternative und gerechtere Arbeits- und Wirtschaftsmodelle breiter diskutiert werden als auch schon. Onlinemedien wie Watson und SRF berichteten vergangene Woche über internationale Studien zur 4-Tage-Woche. Auch eine entsprechende Motion ist momentan im Parlament.

Wenn nicht diese Initiative, dann vielleicht die nächste.

Vielleicht war die Pandemie ja doch ein Gutsch (schweizerdeutsch für «Guss») Wasser in ein Fass, das schon ziemlich voll war. Immer wieder schwappt es über und der Boden ist längst nass. Und vielleicht ist dies das passendere Bild als jenes von einem Pulverfass, das explodiert, sobald die Lunte verbrannt ist, und alles von einem Moment auf den anderen verändert.

Positive Veränderung ist kein Automatismus

Doch nur weil einiges besser ist als vor hundert oder fünfzig Jahren, ist eben noch lange nicht alles gut. Die negativen Veränderungen wie die Klimaerhitzung sind unbestritten. Dass sich das Ozonloch wieder schliesst, relativiert all die besorgniserregenden Entwicklungen nicht.

Positive Trends sollen auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Veränderungen noch sehr viel schneller geschehen könnten, wenn der politische Wille da wäre.

Und auch wenn nach Hans und Ola Roslings Test 90 % der Menschen das Ausmass der globalen Armut überschätzen, ist das keine frohe Botschaft. Jeder aufgrund von Armut verstorbene Mensch ist einer zu viel.

Um den von Bensch Sager eingebrachten Faden der christlichen Botschaft wieder aufzunehmen: Dass es immer wieder auch Grund zur Hoffnung gibt, bedeutet nicht, dass wir uns zurücklehnen und abwarten können. Sondern uns an dieser Vision des «Himmels auf Erden» beteiligen sollten, ja beteiligen müssen.

 

Das RefLab-Buch «Rückkehr der Delfine» ist nach wie vor beim TVZ erhältlich.

«Alles wird gut», Radiopredigt vom 22. Januar 2023, Pfarrerin Tanja Oldenhage 

Der Blogbeitrag «Post-Corona-Welt» zu neuen sozialen Formen, ungeahnten Chancen, aber auch vergrösserter Angst von Johanna Di Blasi/RefLab

TED-Talk von Hans und Ola Rosling: «How not to be ignorant about the world»

Zu den Zusammenhängen von Arbeit, Care, Gerechtigkeit und Gesundheit ist sehr empfehlenswert das Buch «Alle Zeit», Teresa Bücker, Ullstein 2022. 

Foto von Tim Mossholder auf Unsplash

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