In den Abendnachrichten werden neue Infektionshöchststände eingeblendet, inklusive anschaulicher Kurvengrafik. Aber der Gefühlspegel schlägt nicht aus. Das Virus hat sein Momentum gehabt. Mehr als zwei Jahre lang hat es Köpfe und Gefühle dominiert. Jetzt sind andere Themen dran. Corona ist zum Hintergrundrauschen geworden. Und das ausgerechnet in einer Phase, in der Virologen vor weiterer Gefährdung warnen, mit Deltakron eine neuer Hybrid aufgetaucht ist und viele in ihrem unmittelbaren Umfeld Ansteckungen erleben. Oder gerade selbst durch die Krankheit gehen, vielleicht sogar schon wiederholt.
Neue Krise
Die Detonationen sind nahe, aber der Geschützlärm schallt jetzt aus einer anderen Richtung: Eine Grosskrise (Corona) wird gerade durch eine andere Grosskrise (Krieg) überblendet. Nicht nur die Nachrichten sind voll mit dem Russland-Ukraine-Krieg, sondern auch das Denken und Fühlen vieler Menschen, mich eingeschlossen, ist beim gefährlichen Brandherd im Osten Europas. Die Angstvokabel lautet: Dritter Weltkrieg.
Optimisten haben in Bezug auf Corona die Erwartung eines baldigen Verschwindens des Krankheitserregers immer wieder nach hinten verschieben müssen. Und schliesslich eingesehen: COVID 19 wird nicht einfach verschwinden. Sie bauten trotzdem auf eine Zeit der Rückkehr der Nahgesellschaft, der Berührungen, ein Nachholen ungelebten Lebens, eine fulminante After Party.
Aber die Party bleibt erst einmal aus. Wir sind nicht in Feierlaune, sondern Kriegssorge legt sich jetzt wie ein Ascheregen auf Gemüter.
Pessimisten, die sich bereits bei Ausbruch der Pandemie auf eine jahrelange Dauer eingestellt hatten, erhielten nicht nur Recht, sondern wurden von der Realität getoppt. Denn die wenigsten werden sich ausgemalt haben, dass die Corona-Angst nahtlos von Kriegsangst abgelöst würde. Viele in Europa legen wieder Lebensmittelvorräte für Ernstfälle an, auch in der Schweiz.
Neuer Resilienzgrad
Wie können wir mit der Multiplikation oder Überlagerung von Krisen und Ängsten umgehen? Wie mit der Frustration wegen des Ausbleibens von Entlastungserwartungen? Können wir uns überhaupt auf mehr als eine Krise gleichzeitig konzentrieren? Wäre es ratsam, die Aufmerksamkeit aufzuteilen: heute Krieg und morgen oder nächste Woche wieder Corona oder Ökozid? Und haben uns die Pandemiejahre insgesamt resilienter gemacht oder im Gegenteil dünnhäutig und brüchig?
Zunächst einmal: Gefühlsmässig sind wir ohnedies längst im Kriegszustand. Wir haben als Einzelne und als Gesellschaften viele Monate gegen das tödliche Virus als eine unsichtbare, aber omnipräsente und lebensbedrohliche Gefahr gekämpft. Viele haben Angehörige oder Freunde verloren. Kollateralschäden der andauernden Ausnahmesituation sind u.a. brüchig gewordene oder gescheiterte Beziehungen.
Jetzt wäre es an der Zeit, um aus der Pandemiephase erwachsene Belastungsstörungen zu heilen. Dazu aber müsste eine posttraumatische Phase relativer Beruhigung eintreten. Wenn dies nicht geschieht, werden noch grössere Resilienzleistungen notwendig sein.
Resilienz, von lateinisch «resilire»: «zurückspringen», «abprallen», bezeichnet psychische Widerstandsfähigkeit. Man kann sich einen Schaumstoff vorstellen, der verformt wird, nach einiger Zeit aber wieder in die Ausgangsform zurückspringt.
Neue Chancen
Was kennzeichnet die Post-Corona-Welt? Einer der bekanntesten Zukunftsforscher, Matthias Horx (Zukunftsinstitut), formulierte bereits im ersten Coronajahr zehn Zukunftsthesen für die Post-Corona-Welt.
Die erste These lautet: Die Corona-Krise ist eine Tiefenkriese und Bewältigungserfahrung. Tiefenkrise meint Veränderungen, die gesellschaftliche und mentale Strukturen betreffen, gewissermassen das Betriebssystem. Kultur, Gesellschaft und Wirtschaft werden auseinandergenommen und setzen sich neu zusammen. Verhaltensformen, Wertvorstellungen und kulturelle Codes werden verschoben oder bilden sich neu. In sämtlichen Gesellschaftsbereichen, auch in religiösen und kirchlichen, sind tiefgreifende Transformationen in Gang gekommen. Bestehende Bruchstellen haben sich vertieft, neue Verbindungen sind geschaffen worden.
«Krisen, insbesondere Epidemien, haben oft paradoxale Wirkungen – aus Schrecken kann Aufbruch werden, aus Angst Konstruktivität. In der Corona-Krise haben viele Menschen die Doppelfunktion einer Krise erfahren: Sie hat etwas zerstört, aber auch Beginn gefordert und gefördert.»
Ohnmachtgefühle und Erfahrung von Selbstwirksamkeit schliessen sich also nicht aus. Das wird gerade auch angesichts des aktuellen Kriegs deutlich. Ukrainische Bürger schliessen sich spontan zu Widerstandsgruppen zusammen und erfahren Effekte von Selbstwirksamkeit, sogar bei so verzweifelten Aktionen wie dem Basteln von Molotowcocktails. Oder abseits des Kriegsgeschehens: Vielfältige Möglichkeiten zu helfen und sich zu engagieren entreissen Menschen dem passiven Grübeln. Das sind alles Elemente von Bewältigungserfahrungen.
Neues Epochenbewusstsein
Durch Krisen angestossene Prozesse führen, glaubt man dem Optimismus der Zukuftsforscher, zu einer neuen gesellschaftlichen Stufe, der Next Level Society:
«Die Next Level Society erhöht ihren Resilienzgrad, indem sie neue Systeme von Fürsorge und Vorsorge entwickelt, die krisenfester und variabler sind. Sie synchronisiert die sozialen Beziehungen zwischen den Menschen – sowie zwischen Mensch und Natur – zunehmend mit den Notwendigkeiten und Möglichkeiten der Märkte. Und sie verändert das Leben, aber auch die Denkweisen und Gefühlswelten vieler Menschen. Es formt sich ein anderes kollektives Mindset heraus. Ein neues Epochenbewusstsein.»
Von einem solchen prozesshaften Szenario unterscheidet sich die Rede von einer «Zeitenwende»: ein Bruch mit einem klar unterschiedenen Davor und Danach. Deutschlands Kanzler Olaf Scholz hat eine solche Zeitenwende unter dem Eindruck des Russlandkonflikts ausgerufen. Es ist jedoch fraglich, ob die sprunghafte Steigerungen von Rüstungsetats (100 Milliarden Euro Sondermittel im Fall Deutschlands) eine neue und innovative Richtung markiert, oder lediglich die Beschleunigung dessen, was sowieso längst gemacht wird. Es könnte auch einfach ein Rückwärtssalto sein: zum Wettrüsten des Kalten Kriegs. Eine kreativ gedachte Next Level Society stelle ich mir jedenfalls anders vor.
Neues Wirtschaften
Ich möchte auf drei Horxsche Thesen für die Post-Corona-Welt näher eingehen. Sie bieten vielleicht Stoff für ein kreatives Weiterdenken oder für Widerspruch. Eine These lautet: «Die Pandemie verhilft der Blauen Revolution zum Durchbruch.» Mit «Blaue Revolution» ist eine ökologische Wende gemeint, «die nicht primär auf Verzicht und Reduktion setzt, sondern auf eine kreative, öffnende Verbindung von Technologie und Systemintelligenz.»
Man könnte aber auch umgekehrt sagen: Gerade die Pandemiezeit mit lang anhaltenden Lockdownphasen hat gezeigt, dass in vielen Lebensbereichen ein Mass an Reduktion und nicht nur negativer Beschränkung (z.B. Verzicht auf Langstreckenflüge) möglich ist, das zuvor undenkbar schien. Wir erlebten sogar die zeitweise Stilllegung ganzer Wirtschaftsbereiche. Erst recht lehren Kriege Reduktion, Kriegszeiten sind Mangelzeiten.
Neu ist, dass militärische Krisen als Argument für ein verstärktes Setzen auf erneuerbare Energien herangezogen werden, um fossile Abhängigkeiten zu reduzieren. «Erneuerbare Energien sind Freiheitsenergien», habe Liberale gerade entdeckt. Eine Auffassung, die so etwas wie einer «Blauen Revolution» zuarbeitet.
Neue soziale Formen
Eine andere These lautet, dass sich ein neuer Generationen-Vertrag abzeichne, ein «New Generational Deal».
«Im Konflikt um den Klimawandel hatte sich die ältere Generation vor der Corona-Krise mit ihrem Beharren auf einer linearen Fortsetzung des industriellen Fortschritts gegen Fridays for Future und andere Bewegungen durchgesetzt. Während der Krise aber war plötzlich alles möglich, wenn es das Leben der Älteren schütze, auch der komplette Stillstand. Diese Wendung erzeugt eine Art Schuldobligation, eine neue Verpflichtung auf Seiten der Älteren.»
Und mit Blick auf den Digitalitätsboom:
«Die Corona-Krise markiert das Ende dessen, was man die ‹Digitalreligion› nennen könnte – der Glaube an die Verheißungen der digitalen Erlösung von allen Übeln.»
Digitale Technologien haben sich bei der Seuchenbekämpfung als unverzichtbar erwiesen, etwa die COVID-Certificate-App. Der Umgang mit den Technologien aber war überwiegend pragmatisch. Innovationen der Corona-Zeit geschahen weniger auf technischer als auf sozialer Ebene. Gesellschaften haben das Zusammenleben in flexibler Weise neu organisiert.
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