Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 6 Minuten

Wann haben Sie das letzte Mal zum ersten Mal etwas neu gedacht?

Sie finden die Frage merkwürdig? Lesen Sie bitte weiter, ich will mich erklären. Sie finden die Frage sinnlos? Nun, vielleicht sind Sie jemand, der sein Denken nicht ändern muss. Aber lesen Sie ruhig weiter, auch Sie sind hier am richtigen Platz.

Die Welt neu und anders wahrnehmen

Zum Einstieg formuliere ich die Frage etwas um: Wann hat sich mein, wann hat sich Ihr Denken letztmals verändert? Das Denken, also nicht nur einzelne Gedanken, Positionen oder Argumente. Ist vermutlich schon eine Weile her. Ich jedenfalls muss weit zurückgehen, bis in meine Zeit als Student. Da hat jedes neue Werk, mit dem ich mich intensiv beschäftigte, mein Denken bewegt, durcheinandergebracht, neu geordnet. Kennen Sie das auch? Argumente, Texte und Gespräche, die Sie dazu gebracht haben, die Welt anders wahrzunehmen? Sich selbst und ihr Denken radikal zu hinterfragen?

Falls ich diese Erfahrung nicht gemacht hätte, müsste ich fragen: Woher kommt eigentlich mein Denken? Habe ich immer schon gedacht, wie ich jetzt denke? Was müsste passieren, damit ich anders denke? Oder, muss ich gar nicht anders denken, weil ich schon für alles eine Erklärung oder eine Lösung parat habe? Da könnte ich mich allerdings gleich zum Sterben niederlegen.

Denken, das sich nicht mehr begeistern lässt

Soweit ein paar der Fragen, die ich mir, unterdessen ist das Studium lange her, stelle. Immer öfter hinterlassen Texte, Argumente und Positionen einen faden Geschmack: «Kenn’ ich schon, habe ich schon x-mal gehört, wie langweilig». Ich habe mehr Zugriff auf dies alles denn je, aber so richtig begeistert bin ich davon nicht mehr. Die Erfahrung, dass mein eigenes Denken durch anderes Denken angeregt wird, hat sich abgeschwächt.

So schlecht ist das natürlich nicht. Es könnte als Zeichen von Besonnenheit und Gelassenheit interpretiert werden. Eine vernünftige Person lässt sich nicht mehr von jedem Gedanken und jeder Idee aufschrecken. Es gibt Dinge, die sind wie sie sind. Es ist gut, wenn das Denken sie als solche anerkennt. Das nennt man Realismus. Ich habe gelernt, Ideen, Gedanken und Argumente einzuordnen, mich in der komplexen Welt des Denkens zu orientieren.

Und doch: Passen die von mir für richtig gehaltenen Überzeugungen noch zur Welt, wie sie heute ist? Ist die Welt, sind die Menschen nicht so bunt, komplex und vielfältig, dass nur wer bereit ist, sein Denken immer wieder neu aufzusetzen, ihnen auch gerecht wird? Wären nicht intellektuelle Kehren und geistige Re-Framings nötig, um wirklich, ja, zu denken? Ich empfinde es als Schwerfälligkeit, dass es mir schwerfällt, von meinen gewohnten Denkbahnen abzuweichen.

Ideologisches Denken

Dass unser Denken erstarrt und, ohne dass wir es merken, zur Ideologie verkommt, ist nicht unwahrscheinlich. Das gilt für alle, die denken, auch und gerade für die klugen Köpfe: Kapitalist*innen wie auch Kritiker*innen des Kapitalismus, Freidenker*innen und Fromme, Libertäre und Konservative, ja sogar Skeptiker*innen. Für uns alle ist es eine Versuchung, in Ideologien abzutauchen, in denen wir es uns wohlig eingerichtet haben, immun gegen Kritik, aber wunderbar kohärent, unsere Identität und unsere Interessen absichernd. Dieser Versuchung nicht nachzugeben, ist anstrengend. Darum die Frage: Wann hat sich mein, wann hat sich Ihr Denken letztmals verändert?

Wir kennen alle die Gefahren, wenn sich starres und stures Denken – ein Denken, das alles erklären kann und immer schon weiss, was in der Welt falsch läuft, und was es braucht, um die Welt zu therapieren – mit religiöser, politischer, medialer und ökonomischer Macht verbindet. Dann wird die Welt dem Denken angepasst. Kollateralschäden werden ohne Zögern in Kauf genommen.

Die Frage «Wann hat sich unser Denken letztmals verändert?» ist so gesehen nicht trivial. Gegner*innen, die anders denken, umzubringen, einzukerkern, moralisch zu diskreditieren oder in einen medialen Shitstorm zu verwickeln, das ist einfach, und grundfalsch. Wäre es nicht einen Versuch wert, stattdessen die eine oder andere liebgewordene Überzeugung zu opfern? «Kill your darlings» – sage ich meinen Studierenden jeweils, wenn sie über einer Arbeit brüten.

Wenn schon nicht das ganze Denken, dann einzelne Gedanken

Reden wir also nicht mehr vom Denken ganz allgemein, sondern von einzelnen Gedanken, Ideen, Argumenten und Positionen. Wann habe ich, wann haben Sie das letzte Mal zum ersten Mal etwas neu gedacht? Wann habe ich, wann haben Sie das letzte Mal eine für richtig gehaltene politische, ethische oder ästhetische Position aufgegeben? Sich letztmals aufgrund eines Argumentes überzeugen lassen, eine neue Position einzunehmen? Ganz ehrlich … Wer hat das geschafft? Und wie?

Vertrete ich immer noch dieselbe Position und dieselben Argumente bezüglich aktiver Sterbehilfe, gentechnisch veränderten Organismen, Vegetarismus, Klimawandel, Abtreibung, Migration, Kapitalismus, Nationalismus, Frauenquoten, deutschem Rap, Existenz Gottes wie vor fünf oder zehn Jahren? Warum hat sich da nichts geändert? Bin ich wirklich so überzeugt davon, dass meine Argumente, Ideen und Positionen nicht transformiert werden müssen? Habe ich denn keine neuen Erfahrungen gemacht? Keine Begegnungen gehabt, die mich auf neue Gedanken gebracht haben? Und Sie?

Gedanken als Avatare

Ich will diese Fragen über einen Umweg angehen. Die meisten unter uns haben in den letzten Jahren, ihre modische Erscheinung verändert. Kaum eine*r von uns läuft immer noch mit demselben T-Shirt, derselben Handtasche, demselben Schnitt der Hosen und Sakkos, derselben Brille und Frisur wie vor zehn Jahren herum. Man würde sich komisch vorkommen, sich sogar ein bisschen schämen, wenn man es doch tun würde. Wir alle kennen den Effekt, den alte Fotos von uns auslösen können. Stellen wir uns vor, unsere Ideen, Argumente und Überzeugungen seien wie Kleidungsstücke und –accessoires. Kann man diese Farbe, diesen Schnitt wirklich noch tragen? Spannt da nicht etwas über dem Bauch? Sind diese Absätze nicht zu hoch? Sie sehen den Punkt.

Damit sind wir natürlich mitten im Denken: Kann man Ideen, Argumente und Positionen wirklich mit Kleidungsstücken und –accessoires vergleichen? Nur ruhig, niemand verlangt, dass wir Ideen, Argumenten und Positionen wie modischen Kleidungsstücken hinterherjagen. Aber wir sollten sie viel flexibler und entspannter handhaben. Sie sind Avatare, die es uns erlauben, verschiedene Möglichkeiten der Welt und unserer selbst zu erkunden, ohne dass wir dabei unser Leben wirklich riskieren müssen.

Zuhören und Schweigen als Stil des Denkens

Wie also komme ich, wie kommen Sie, wie kommen wir dazu, neue und wirklich gute Ideen, Argumente und Positionen zuzulassen? Ich glaube, es geht primär um einen Stil des Denkens.

Nicht gleich los schreien, mit Gegenargumenten, Recht haben wollen, widersprechen, noch brillanter denken wollen, sondern … zuhören. Wirklich zuhören. Der oder die Andere könnte uns etwas zu sagen haben. Ja, wirklich! Wann habe ich, wann haben Sie das letztmals gemacht? Jemandem, der ein Argument, eine Idee, einen Gedanken geäussert hat, wirklich zugehört? Dem fremden Argument im eigenen Denken einen Raum gegeben, wo es sich subversiv entfalten kann? Also nicht schon beim Reden der Anderen das Gegenargument, die Erwiderung präpariert haben. Verpasse ich dadurch etwas? Komme ich dadurch zu kurz?

Nicht sofort los schreiben, auf allen Kanälen senden, im horrenden Tempo, unbeherrschte Wortströme, sondern …  schweigen. Ja, wirklich, schweigen. Wann habe ich, wann haben Sie letztmals geschwiegen? Darauf verzichtet, einen Tweet oder ein Argument rauszuhauen, kluge Dinge in ein Mikrofon oder eine Gesprächsrunde zu äussern, einen Artikel oder ein Buch zu verfassen? Fällt es mir, fällt es Ihnen schwer, der Welt die eigenen Überzeugungen vorzuenthalten? Wird die Welt dadurch schlechter?

Probieren wir es doch mal aus.

Photo by Mark Arron Smith from Pexels

3 Kommentare zu „Wann haben Sie das letzte Mal zum ersten Mal etwas neu gedacht?“

  1. Angela Wäffler-Boveland

    Der Gedanke gefällt mir: wann habe ich zuletzt neu gedacht? Und ich komme ins grübeln: seit Jahren die gleiche Frisur, der geliche Kleiderstil (nur die Grössen ändern sich), weitgehend der selbe Freud*innen-Kreis und vieles, was ich in (kirchlhichen) Organen lese oder höre langweilt mich tatsächlich… doch die Gedanken?
    Am letzten Montag staunte ich in einem online-Kurs, wie leichtfüssig die Teilnehmenden zu Erkenntnissen kamen, für die ich Jahre gebraucht hatte. Zwei Tage später nahm ich überrascht zur Kenntnis, dass eine Kursgruppe im Zusammenhang mit der Coronakrise vor allem in Sorge um die psychische Gesundheit der einzelnen wie der Gesellschaft war: wie können wir einer „Kultur des Verdachtes“ entgegenwirken?
    Am Donnerstag wurde das Gebet der Judit (Judit 9) als „Gott den Schmu geben“ gedeutet – auf die Idee wäre ich selbst nie gekommen: sie formuliert, was Gott hören will, damit er tut, was sie von ihm erwartet. Der Gedanke lässt mich nicht los.
    Am Samstag beeindruckt mich die präzise Sprache und das Reflexionsvermögen einer weiteren Online-Kursgruppe: es gelingt ihnen in kurzer Zeit, aus eigenen formulierten Glaubenssätzen einen Konsens zu entwickeln.
    Gestern dann eine Bekannte, die mir eine (theologische) Frage stellt, die mich den ganzen Abend beschäftigt, herausfordert, beseelt –
    beruht dies alles auf Zuhören? Vielleicht. Auf Neugier? Wahrscheinlich. Auf der Erfahrung, dass mein Denken noch längst nicht an einem Ende angekommen ist? Sicher.

  2. Hans Ulrich Jäger-Werth

    Bei der Auflösung der Zweiwohnung kam mir eine Aufnahme eines Vortrags in die Hände, den ich vor etwa 40 Jahren im Alter von etwas mehr als 40 gehalten habe. Ich erschrack. Seither habe ich kaum neue Gedanken gehabt, sondern nur weiter entwickelt, angepasst, modifiziert. Aber ist das nicht bei den meisten ähnlich?

    1. Bei mir ist es eher umgekehrt gewesen, mein ganzes Leben lang hinterfrage ich meine Gedanken und Entscheidungen. Es ist sehr anstrengend Tag für Tag über sein Denken das über das Wissen gesteuert wird nachzudenken. Aber das gehört zu unserem Leben dazu, sich jeden Tag selbst zu hinterfragen ob ich Fehler gemacht habe oder nicht. Wichtig ist einmal getroffene Entscheidungen mit neuem Wissen auch neu zu bewerten und seine Meinung oder Ansichten zu ändern. Das Leben besteht aus ständigem wandel und das ist gut so.

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