Dein digitales Lagerfeuer
Dein digitales Lagerfeuer
 Lesedauer: 4 Minuten

Muttersein: Sehnsüchte und Gewissheiten

Ich stille meinen Sohn und schaue zum Fenster hinaus, von wo aus ich die Skyline Londons sehe. Es ist Abend, die Lichter der Stadt flimmern am Horizont. Ich sehne mich danach, in das Gewühl der Stadt einzutauchen, ohne über die Konsequenzen nachzudenken.

Ich will von Pub zu Pub ziehen, die Nacht zum Morgen werden lassen und mit fremden Menschen feiern.

Ich will neue Ecken entdecken, im Sonnenschein Kaffee trinken und stundenlang im Bücherladen stöbern. Ich will die Zeit vergessen, so wie damals, in den Tag hineinleben und nur meinen eigenen Bedürfnissen gerecht werden. Das geht nicht mehr. Wenn man sich ein paar Tage freischaufeln will, braucht es viel Planung, und nach ein paar Tage kriegt man sowieso Heimweh.

Teilzeitelternschaft gibt es nicht.

Man ist immer Eltern, auch wenn man gerade nicht beieinander ist.

Unterschiedliche Lebensentwürfe

Dann kommt mir in den Sinn, was ich alles eintauschen müsste, um wieder ganz unbekümmert in mein Leben ohne Kinder einzutauchen. Zum Beispiel habe ich ein ganz neues Freundesnetz, und schon lange nicht mehr nur der gleichaltrigen Kinder wegen. Ich wende mich an meine mum friends, wenn es mir schlecht geht, wir gehen zusammen aus, und eine Familie hat unseren älteren Sohn während der Geburt des jüngeren unkompliziert bei sich aufgenommen.

Das Großartige daran ist, diese Freunde leben im selben Quartier. Man trifft sich auch mal per Zufall auf der Strasse und natürlich immer wieder im Park und auf den verschiedenen Spielplätzen. Man kann sich relativ spontan treffen und muss wenig erklären. Zuvor hatte sich unser soziales Netz über Dutzende von Kilometern erstreckt, wie das in London üblich ist.

Die Menschen im eigenen Quartier waren hauptsächlich Fremde.

Die sonnigen Wochenenden im Park mit unserem Sohn und seinen vielen wunderbaren kleinen Freunden, die wir mittlerweile so gut kennen, während wir Eltern in der Sonne sitzen, Kaffee trinken und quatschen, machen mich glücklich. Ich bin trotz früher Tagwacht erstaunlich fit, weil ich eine Tagesroutine habe und ein weitgehend katerfreies Leben lebe. Wer einmal mit Kater zu Kleinkindern geschaut hat, überlegt sich das zweite Glas Wein gut… Es ist kein gutes Gefühl.

Die Welt durch Kinderaugen

Dann: Lego bauen, am Spielzelt Bücher vorlesen, Gute-Nacht-Geschichten erzählen. Klebrig-schwitzige Kinderumarmungen, das zahnlose strahlende Lächeln auf dem Wickeltisch, die Worte «Mama, I love you». London und die Welt durch Kinderaugen neu entdecken, Kinderlogik, Hand in Hand spaziergehen. Im Wald Hütten und am Strand Sandburgen bauen, Kinderfilme schauen, die geteilte Aufregung vor einer gemeinsamen Reise. Zu viert im Bett liegen und über den Tag sinnieren, die friedlich schlafenden Kinder zudecken, sich darauf freuen, wenn sie wieder aufwachen. Schoggimäuler, Versöhnungen, an den Samichlaus und an den Osterhas glauben. Mama zweier Menschenwesen sein zu dürfen.

Nichts davon würde ich eintauschen wollen gegen das Leben, mit dem die Skyline am Horizont lockt. Und trotzdem vermisse ich es, keine Frage. Wenn ich im Taxi abends durch die Stadt kurve, um rechtzeitig den Babysitter abzulösen, und draussen die Menschentrauben vor dem Pub stehen sehe, dann packt mich die Wehmut.

Ein Leben mit Kindern oder ein Leben ohne Kinder? Für mich ein 1:1 unentschieden.

Beide Lebensentwürfe, ob gewollt oder nicht, haben Herausforderndes und Schönes, wie das Leben eben ist.

Ein Leben ohne meine Kinder? Niemals! Aber die eigenen Kinder lernt man ja erst kennen, wenn sie einmal da sind. Davor weiss man nicht, wen man vermisst. Man stelle sich einmal all die vielen potenziellen Menschenwesen vor, die Monat für Monat entstehen und in unser Leben treten können. Die meisten werden wir nie kennenlernen.

Geniessen wir, was wir haben, und stehen wir uns gegenseitig bei, wenn wir es gerade nicht so geniessen können. Das Leben ist schön und herausfordernd, ob mit oder ohne Kind.

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