Dein digitales Lagerfeuer
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 Lesedauer: 6 Minuten

Mit Gott Zug fahren

Eine junge Frau steht am Bahnsteig. Der Zug fährt ein. Blau. Doppelstockwaggons. Die, in denen die Menschen in oben und unten aufgeteilt sind. Entweder man guckt von oben auf alles herab oder man ist auf Augenhöhe mit den Hosenbeinen der einsteigenden Reisenden.

Der Zug kommt zum Stehen. Die Türen öffnen sich. Die junge Frau steigt ein und findet ihr Abteil im unteren Bereich – mit Blick auf die Hosenbeine. Knapp 10 Stunden Zugfahrt liegen vor ihr. Wenn der Zug morgen früh seinen Zielort erreicht, wird sie in einem anderen Land sein. Sie hat sich etwas vorgenommen.

Ich habe mir etwas vorgenommen. Eine Zugfahrt mit Gott. Einige finden Gott auf dem Velo wieder. Ich fahre meistens eher Zug.

Ich weiss nicht recht, wie das geht, mit Gott reisen, quasi zu zweit unterwegs. Pilgern, das wollte ich, aber das ist meist ein recht weiter Weg. Und so viel zu Fuss – das ist zumindest für diese Strecke und die vorhandene Zeit keine Option. Lieber fahr ich mit Gott Zug.

Eine Reisebegleitung

Während mein Kopf vor sich hin sinniert und sich fragt, ob das eine gute Idee war, und was nun eigentlich passieren sollte und, ob Gott wohl etwas von meinem Proviant abhaben will, während das alles so ist, bin ich nicht mehr allein.

Also, weshalb bin ich hier? Was ist dein Plan für die Fahrt? Worüber willst du sprechen? Und hast du diese runden Haferkekse zufällig dabei?

Gott sitzt neben mir und guckt mich aufrichtig interessiert an. Ich weiss nicht recht, wo ich hinschauen soll, und blicke peinlich berührt aus dem Fenster. Kann ja keiner ahnen, dass das so funktioniert.

Naja, es ist ja nicht das erste Mal, dass ich versuche Kontakt aufzunehmen. Passiv-aggressive Kommunikation kann ich.

Ich frage mich, was ich eigentlich von Gott wollte, so konkret. Eigentlich ist alles halbwegs okay. Keine akute Notlage, keine Erkrankung, von der ich weiss. Da ist das Hintergrundrauschen, das mal lauter, mal leiser ist. Auch mein Glaube dümpelt vor sich hin, wie diese Plastikenten, die man früher als Deko in kleine Gartenteiche gesetzt hat. Was will ich also eigentlich?

Eine grosse Frage

Ich würde die Dinge gerne verstehen. Ich verstehe nämlich immer noch so wenig von den Dingen auf dieser Welt. Und ich habe nicht das Gefühl, es wird besser, je älter ich werde. Eher das Gegenteil.

Ein stummes Nicken.

Dazu kommt das permanente Gefühl, dass mir alles entgleitet. Sicher, ich habe mehr Erfahrung und schon die ein oder andere Krise überlebt, aber trotzdem fühlt sich das ganze Leben so fragil und zerbrechlich an. Das sage ich aber nicht mehr. Das denke ich nur. Vermutlich macht es keinen Unterschied.

Aus dem Fenster hängen meine Augen an den abwechselnd grau, braun, roten Schallschutzwänden. Dahinter ragen Mehrfamilienhäuser hervor. Die Wände sind noch frisch, sie haben noch keine Graffiti. Wer hat die eigentlich entworfen? Irgendwer muss sich doch mal gedacht haben: Das sieht richtig schick aus, und funktional ist es auch noch.

Ich bin so sauer auf die ganze Welt. Auf den ganzen Mist der passiert. Und dann schäme ich mich dafür, nicht genug zu spenden, dafür aber Geld für einen schöneren Duschvorhang auszugeben. Im letzten Jahr verliessen über 122 Millionen Menschen ihr Zuhause, weil sie dort nicht mehr sicher waren. Und ich kaufe einen neuen Duschvorhang. Das ist doch scheisse.

Eine kleine Hoffnung

Die Schallschutzwände sind sicherlich nicht so fragil, wie sich mein Leben oftmals anfühlt. Die Welt braucht dringend mehr Schallschutzwände, gegen den ganzen gesellschaftspolitischen, globalen Lärm. Gegen die Einschläge, die immer näher rücken.

Wie schön es wäre, wenn wir einfach Schutzwände aufstellen könnten, gegen Krebs und Scheidungen, gegen Hasskommentare und Rechtspopulisten. Gott räuspert sich unmerklich während ich mich in Rage rede.

Wieder ein Nicken. Dazu ein Geräusch, das nach grmpf klingt. Ich blicke aus dem Fenster, als wollte ich mich an der Welt festhalten, damit sie mir nicht davonfliegt.

Draussen hat die Natur die Schallschutzwände verdrängt. Hier scheinen keine Menschen zu leben, die geschützt werden müssten, zumindest nicht vor dem Zuglärm. Bäume, Felder und Hoffnungen ziehen vorbei. Das ungute Gefühl im Bauch ist nicht nur meinem Hunger geschuldet.

Was darf ich hoffen? Kant hat diese Frage bereits 1781 gestellt. Gott ist zumindest mir die Antwort schuldig geblieben. Die Menschen haben sich die Frage stets selbst beantwortet. Und auch jetzt bleibt es still neben mir. Ich setze mir meine Kopfhörer auf und mache mir leise Musik an. Das ist gut gegen die Gedankenspiralen, die sich sonst gerne einstellen.

Ich besorge mal was zu trinken, sage ich und stehe auf. War vielleicht auch etwas naiv von mir zu glauben, dass sich die grossen Fragen mal ebenso auf einer Zugfahrt klären liessen.

Eine Bewegung

Im Bordbistro bekomme ich extra Kekse, weil wir etwas Verspätung haben. Als ich zurück ins Abteil trete, blickt Gott aus dem Fenster. Draussen wird es hügelig. Weisst du, das macht gar nicht so viel Freude mit dir Zug zu fahren wie ich dachte. Irgendwie hatte ich auf mehr Erleuchtung gehofft.

Gott deutet mir, auch aus dem Fenster zu schauen. Na gut, ich setze mich und blicke auf das freie Feld. Wie sich die Landschaft, die an mir vorbeizieht, wohl gewandelt hat?

Der Nobelpreisträger für Chemie Paul Crutzen hat den Begriff Anthropozän geprägt. Crutzen stellte in einem Artikel dar, dass seit 200-300 Jahren der Mensch ganz entscheidend die natürliche Umwelt verändere, zunehmend nicht mehr nur lokal, sondern global.

Die Natur gibt eine Form vor, Menschen haben sie verändert, die Natur hat sich angepasst, der Mensch hat darauf reagiert und so geht es wohl immer weiter. Bewegung und Gegenbewegung.

Als wir den nächsten Ort passieren, tauchen wieder die Wände auf. Dieses Mal nur in alt und mittlerweile verwildert. Grafitti verzieren die Schallschutzungetüme. Efeu wächst darüber, Bäume greifen mit ihren Ästen nach den Lärmverhinderern.

Unsere Schutzpatrouille hat für die Natur nur eine kurze Halbwertszeit. Auf die industriell gefertigten und von menschenhand installierten Flachwände reagiert die Natur mit Renaturierung. Auch hier, auf eine Bewegung folgt eine Gegenbewegung.

Kein Impuls bleibt ohne Auswirkung. Als hätte jede Lebensform ihre eigen Art und Weise auf Störungen zu reagieren, für Schutz zu sorgen.

Eine Idee

Vielleicht ist das etwas, worauf du hoffen darfst, sagt Gott- oder habe ich es nur gedacht? Ich tunke einen Keks in das Heissgetränk, einzelne Brösel lösen und verlieren sich im Latte Macchiato.

Manchmal verliert sich der Lärm in den Schallschutzwänden, die wir errichtet haben. Und manchmal, wenn wir noch keine Wände aufstellen konnten, wenn der globale Lärm schneller ist als unsere Schutzmechanismen, hoffen wir auf eine Gegenbewegung.

«So ist es», sagt Gott, dabei habe ich gar nicht laut gesprochen.

Während es draussen langsam dunkler wird, fahre ich mit dem Zug Richtung Süden und versuche dabei eine Hoffnung zu greifen. An mir rauschen Bäume vorbei, ich beginne die Bahnübergänge zu zählen, eins, zwei, … Oh, ein hübscher alter Bahnhof. So alte Bahnhöfe werden auch immer mehr von der Natur zurückerobert. Ich wollte mich noch bei meiner Schwester melden. Mache ich morgen. Ganz schön kalt hier, vielleicht nehme ich meinen Schal einfach als Decke. Wo ist eigentlich der nächste Halt?

Traumversunken schiebe ich mir die Kopfhörer runter. Mein Kopf kullert gegen die Fensterscheibe. Gott sitzt immer noch still neben mir. Aber vielleicht ist es auch nur eine Spiegelung des Lichts.

 

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