Du bist eine Enttäuschung für mich.
Kinder haben zu parieren!
Sie haben ja gar kein Selbstvertrauen.
Solche Sätze hallen durchs Leben mancher Menschen. Sie können sich gut mit Frank Kafka identifizieren. Kafka starb am 3. Juni 1924 im Alter von 40 Jahren in einem kleinen Sanatorium in der Nähe von Wien: am Vorabend der NS-Schreckensherrschaft. Morgen jährt sich der Todestag des jüdischen Schriftstellers zum 100. Mal.
Kafka war überzeugt, dass der Mensch nicht leben kann «ohne ein dauerndes Vertrauen zu etwas Unzerstörbarem in sich, wobei sowohl das Unzerstörbare als auch das Vertrauen ihm dauernd verborgen bleiben können.»
Als eine der Ausdrucksmöglichkeiten dieses Verborgenbleibens sah er den Glauben an einen persönlichen Gott an.
In seinem Leben und in seinen Büchern umkreiste der Autor aber das prekäre Gegenstück zum Unzerstörbaren: die Vulnerabilität des Menschen.
Der Prager-jüdische Verfasser von Romanen und Erzählungen und seine Geschwister bekamen vom Vater immer wieder das Mantra zu hören:
Euch geht’s zu gut!
Obwohl es ihm angeblich «zu gut ging», schlug sich Kafka zeitlebens mit Selbstzweifeln, Unsicherheit und Schuldgefühlen herum.
Kafkas literarische Figuren spiegeln diese Seelenverfassung. Sie tragen sonderbare Lasten, leiden unter diffusen Ängsten und immer wieder unter Scham und mysteriösen Schuldgefühlen, deren Ursachen ihnen verborgen bleiben.
So entfällt die Chance, sich zu rechtfertigen.
Das ist die Grundkonstellation insbesondere bei Herrn K. in Kafkas berühmtem Roman «Der Prozess».
Ist das literarischer Surrealismus oder real?
Der deutsche Psychologe Wolfgang Hantel-Quitmann, Professor für Klinische und Familien-Psychologie, kennt kafkaeske Schilderungen zuhauf: aus seiner Praxis.
Der Psychologe hat ein lesenswertes und hilfreiches Buch mit dem Titel «Kafkas Kinder. Das Existenzielle in menschlichen Beziehungen verstehen» geschrieben, in erster Auflage 2021 erschienen.
Da grundsätzlich jeder Mensch früher oder später auf existenzielle Fragen um Leben, Liebe, Leiden und Tod stosse, die auch Kafka umtrieben, seien wir im Grunde alle Kafkas geistige Kinder, schreibt der Familienpsychologe.
Um dann allerdings eine bestimmte Symptomatik näher in den Blick zu nehmen. In neunzehn Kapiteln setzt der Psychologe Fallbeispiele aus seiner Praxis in Beziehung mit Kafkas Biografie und Kafka-Figuren.
Als «Kafkas Kinder» bezeichnet der Psychologe Menschen, deren Probleme und Leiden an jene Kafkas und seiner literarischen Figuren erinnern.
Da ist der Sohn von Herr A., der sich von seinem Vater emotional erpresst fühlt und sich vor die Frage gestellt sieht: Selbstaufgabe oder Flucht. Frau S. schlägt sich seit der Trennung von ihrem Ehemann mit schlimmen Schuldgefühlen herum, dabei hätte ihr despotischer Exmann mehr Grund dazu.
Hochzeitsabsage per SMS
Herr H. hat wie aus heiterem Himmel kurzfristig per SMS seine Hochzeit abgesagt. Weshalb, weiss er nicht. Ausser, dass plötzlich Angst da war. Die vor den Kopf gestossene Ex-Braut ist zutiefst gekränkt. Sie mag mit dem Typen gar nicht mehr reden.
Franz Kafka hat sich bekanntlich selbst mit Hochzeitsvorbereitungen herumgeschlagen. In Worstcase-Szenarien stellte sich der Schriftsteller als junger Mann vor Augen, dass mit dem Schritt der Heirat womöglich jegliche Freiheit für ihn vorbei sei, ja er sich als Person auflöse.
Andererseits graute Kafka vor dem einsamen Junggesellenschicksal und der Kinderlosigkeit.
Er stellte sich vor, «krank zu sein und aus dem Winkel seines Bettes wochenlang das leere Zimmer anzusehn», «fremde Kinder anstaunen zu müssen» und sich «im Aussehen und Benehmen nach ein oder zwei Junggesellen der Jugenderinnerungen auszubilden».
«So wird es sein, nur dass man auch in Wirklichkeit heute und später selbst dastehen wird, mit einem Körper und einem wirklichen Kopf, also auch einer Stirn, um mit der Hand an sie zu schlagen.»
Bekanntlich entschied sich der Verfasser von Romanen («Der Prozess», «Amerika», «Das Schloss») und Erzählungen wie «In der Strafkolonie» oder «Die Verwandlung» gegen die Ehe und für das Junggesellendasein.
Dumpfe, giftreiche, kinderauszehrende Luft
Woher kommen kafkaeske Schwierigkeiten, mit dem Leben zurecht zu kommen und sich einigermassen selbstsicher zu fühlen? Kafka selbst tippte auf die toxische Atmosphäre in seinem Elternhaus, die «dumpfe, giftreiche, kinderauszehrende Luft» unter dem Regime eines väterlichen Tyrannen und Narzissten.
Letztendlich aber klagte er sich selbst an.
Schuld ohne Schuldgefühle, macht der Psychologe deutlich, deutet auf eine psychische Störung hin, aber ebenso das Umgekehrte: Schuldgefühle ohne Schuld.
Der Familienpsychologe schaut sich nicht nur die Menschen an, die psychologische Hilfe suchen, sondern auch ihr Umfeld. Er betrachtet Familien überdies aus einer Mehrgenerationen-Perspektive. Hantel-Quitmann stellt fest, dass die soziale Lage und die Familie, in die wir hineingeboren werden, für manche Menschen «zu einem lebenslangen Schicksal» werden können.
Mehrgenerationen-Perspektive
Auffallend einsame, eingeschüchterte, ängstlich zurückgezogene, introvertierte, grübelnde, stille, ernste und sozialängstliche Kinder geben dem systemischen Psychologen Aufschlüsse über Störungen auch im familiären oder sozialen Umfeld.
In toxische Familienatmosphären, geprägt durch Gewalt und Traumata, überlagern und überdecken «Scheingefühle» die eigentlichen Gefühle.
Kinder stürze ein derartiges Umfeld in emotionale Verwirrung.
Es kommt zu Wahrnehmungsstörungen. Ihr Selbstvertrauen wird gehemmt oder kann sich gar nicht bilden. Aggressive wie auch depressive Reaktionen Betroffener sind häufig die Folge.
Das Ungeziefer der Familie
Erfolgt die familiäre Ausgrenzung missliebiger Familienmitglieder, passiert etwas, das Kafka mit dem drastischen Bild der Verwandlung in einen Käfer versinnbildlichte: ein Ungeziefer, das isoliert leidet und nach seinem Tod von der Familie angeekelt entsorgt wird.
«Bei depressiven Neigungen», schreibt der Therapeut, «ist zu befürchten, dass Aggressionen eher gegen sich selbst gewandt werden.»
Betroffene haben oft das Gefühl, irgendwie zu stören, zu viel Luftraum einzunehmen, keine Daseinsberechtigung zu haben, peinlich oder abgrundtief hässlich zu sein. Kafka dachte letzteres von sich.
Innerer Rückzug ist häufig die Folge. Es kann Jahrzehnte dauern, bis die inneren Spannungen und die Unsicherheit etwas nachlassen.
Ohnmacht und grundlose Schuldgefühle
Ich verbinde mit Franz Kafka einen Fahrradkorb und eine gelbe Box: sein Gesamtwerk im handlichen Kartonschuber. Als Schülerin gelang es mir, die Box vor Einbruch des Regens in mein Zimmer zu schaffen. Fast wie die Maulwurfsfigur in Kafkas Erzählung «Der Bau».
Wäre der Regen eher gekommen, hätte ich mich mit der Box in die nächstgelegene Häuserecke gekauert. Ich hätte das Heiligtum, wie eine der Figuren Kafkas, mit meinem gewölbten Oberkörper vor zudringlichen Tropfen geschützt, die Knie im Staub.
Ich rettete die gelbe Box – und die gelbe Box rettete mich.
Worin lag die Rettung? Wahrscheinlich war es das Gefühl, nicht allein zu sein mit sonderbarer Lebensängstlichkeit und Unsicherheit.
Meine erste Liebe war Franz Kafka.
Irgendwann sind die Minderwertigkeitsgefühle und die Sozialängstlichkeit abgefallen und ich stellte überrascht fest, dass ich schein-introvertiert gewesen war.
Mut, aus toxischen Atmosphären auszubrechen
Der Psychologe Wolfgang Hantel-Quitmann ermutigt in seinem therapeutischen Leitfaden dazu, individuelle Wege einzuschlagen, selbst auf die Gefahr hin, ernsthafte Folgekonflikte in Familien zu riskieren.
Balsam für Seelen von Menschen, die Atmosphären der Angst, Demütigungen und Schuldzuweisungen entstammen, sind «gute Selbstwirksamkeitserfahrungen und kompensatorische Beziehungen, um sich selbst aus diesem Klima zu befreien».
Was sicher nicht hilft, ist Bagatellisierung von Gefühlen. Gerade Menschen aus von Gewalt und Gaslighting geprägten Umfeldern kennen das zur Genüge.
Gaslighting ist eine Form von psychischer Gewalt, bei der Menschen durch Lügen, Leugnen und Einschüchterungstaktiken manipuliert werden. Zu Kafkas Lebzeiten gab es den Begriff noch nicht.
Der vielleicht gut gemeinte Rat, weniger um sich und seine Befindlichkeiten zu kreisen, wird bei Lebensängstlichen wahrscheinlich Selbstzweifel eher verstärken. Auch wenn sicherlich richtig ist:
In der eigenen Opferrolle steckenbleiben ist fatal.
Für Fanz Kafka war eine Möglichkeit der Aufarbeitung erlittener psychischer Gewalt und emotionaler Konflikte das Schreiben. Berühmt ist der «Brief an den Vater», den der Adressat vermutlich nie gelesen hat (zu finden im Internet beim Projekt Gutenberg).
Klärende Briefe zu schreiben, rät auch der Familientherapeut, egal ob man sie abschickt oder nicht.
Die gute Nachricht des Psychologen: Kafkas Kindern kann geholfen werden – und sie können sich auch selbst helfen.
Kafka hatte übrigens jegliche psychotherapeutische Hilfe abgelehnt. Der Grund dafür wird kaum überraschen: Er hatte Angst davor.
Foto von Makoto Tsuka auf Unsplash