Dein digitales Lagerfeuer
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Weltraum-Eskapismus: Ist Mars unser Planet B?

Ich stehe am Wiener Heldenplatz: Mit grossem Lärm, viel grünen Bannern behangen, protestieren seit Jahren jeden Freitag Menschen in meinem Alter gegen die teils systematische, teils arglose Ausschlachtung unseres Heimatplaneten Erde.

Zwischen zwei Vorträgen hole ich mein Smartphone heraus: Mit grossem Lärm, einem Häkchen unter ihrem Twitterprofil und im Schnitt gar nicht so viel älter, verfolgen seit Jahren eingefleischte SpaceX-Anhänger:innen und andere Weltraumeskapist:innen jeden Raketenstart und träumen von einer neuen Zukunft im Weltall.

Ich kann beide Seiten verstehen. Beide träumen von einer anderen Welt. Die Prämisse der ersteren lautet:

Es gibt keinen Planet B.

Und daran erinnert einen jedes vierte Schild auf einer «Fridays for Future»-Demonstration. Planet A, das ist diese schöne Welt, die man spirituell aufgeladen als Schöpfung oder Mutter Erde bezeichnet, und deren Schönheit unter jahrhundertelanger Ausbeutung und Verschmutzung anfängt, abzublättern und auszugrauen.

Diese Prämisse aber teilen all jene nicht, die in unserem Nachbarplaneten Mars schon einen potenziellen Ersatzkandidaten als planetare Heimstätte erblicken. Der Russische Kosmismus der 70er um Fjodorow und Ziolkowski, stellte sich vor, dass sich der Mensch zukünftig dahin entwickeln würde, im Weltraum leben zu können.

Der Traum der Kosmisten lebt unter anderem Namen weiter: Ich nenne das gerne Weltraumeskapismus. Denn darin steckt beides: die Flucht und die Eskapade.

Terraforming Mars: Der Mars wird die neue Erde

Ob es technisch möglich wäre, Mars in eine Hightechkolonie zu verwandeln, ist völlig unklar. Ein Upload des Bewusstseins in eine Cloud oder die Konservierung des eigenen Körpers, um ihn zu einem späteren Zeitpunkt wiederzubeleben, ist relativ schwer vorstellbar. Eine Weltraumkolonie aber können wir uns ohne allzu grosse mentale Verrenkungen vorstellen. Dank des Science-Fiction-Genres. Es malt uns schon seit Percy Gregs «Across the Zodiac» von 1880 eine bunte Palette von Bildern in den Kopf, wie eine Marsbesiedlung ausschauen könnte:

Grosse, gläserne Kuppeln mit Gewächshäusern, Jetpacks für Ausseneinsätze, sehr viel Metall und Stockbetten.

Früher oder später soll der Planet dann bewohnbar gemacht werden. Jack Williamson prägte dafür den Begriff des Terraformings. Eine Umbildung eines Planeten in eine zweite Erde, ist gemeint. Zwischen 0–30 Grad Celsius bräuchte es, mehr als 1 hPa Sauerstoff usw., um wenigstens für pflanzliches Leben bewohnbar zu sein, sagt die Wissenschaft.

Es gäbe also eine Planeten B, sagen Weltraumeskapist:innen.

Eines muss aber irritieren: Selbst im kaputtesten Zustand ist unsere Erde vermutlich lebensfreundlicher als jeder andere Planet in unserer Reichweite.

Warum aber bekommt man den Eindruck, manche wollen doch lieber gehen?

Teures Ticket zum Mars

Hier vermuten nun Kritiker:innen dieser transhumanistischen Weltflucht ein stilles Übereinkommen der wenigen Superreichen, die sich überhaupt ernsthaft diesen Fantasien hingeben können:

Mars den Reichen und Starken.

Wie bei den meisten technophilen Utopien, sind es ein paar wenige Privilegierte, die zuerst und in diesem Fall vielleicht sogar als letzte auf die rettende Arche Richtung Mars dürften. Nicht in Zweierpaaren grosser Vielfalt aus allen Ländern, Schichten und Kulturen, nach dem Modell, das Gott einst Noah vorgeschrieben haben soll, sondern in einer kulturdarwinistischen Selektion. Gerettet werden in diesem Szenario die Reichsten der Reichsten, die es ihrer Meinung nach auch verdient haben. Immerhin stehen sie ganz oben in der Hackordnung des Kapitalismus.

Und noch etwas hören wir hier heraus: Die Superreichen mögen uns Normalos nicht. Andernfalls läge es näher, diesen Planeten zu retten als ihn aufzugeben.

Doch Mars ist auch ein Versprechen. Eine kleinere Welt zwar, dafür eine Welt der auserwählten Übermenschen.

Elon Musk, einer der Vorreiter des Weltraumeskapismus, glaubt gar, er lebe in einer Simulation, in der er der Hauptcharakter ist und alle Menschen quasi simulierte Nebencharaktere, die er zu retten habe.

Gigantomanie paart sich mit Gottkomplex, Technoutopismus und zu viel Geld.

Ich erschaudere beim Gebahren dieser Pioniere. Denn verwoben ist mit der Weltflucht ins All auch eine spezifische Moral.

Ein neuer Planet = ein neues Ethos?

Auf dem Mars und schon auf dem Weg dorthin herrscht ein neues Ethos, also eine moralische Gesinnung oder Moralität, die dem Weltraumeskapismus eigen ist.

Auch die erfolgreiche Science-Fiktion-Reihe «The Expanse» von James S. A. Corey bedient sich der Idee, dass Mars ein geeigneter Kandidat für eine Besiedlung wäre. Auch die Kolonist:innen von Mars leben in der Hoffnung, diesen eines Tages durch Terraforming in eine grüne Oase zu verwandeln. Und auch sie verabscheuen die auf der Erde Zurückgebliebenen.

Anders als in unserem Fall sind es allerdings die Armen, die man von der Welt verbannt, während vornehmlich Reiche auf dem grünen Planeten bleiben und den Überfluss geniessen, den die Marsbewohner:innen sich so sehnlich wünschen.

Was die Marsianer:innen in Menge besitzen, sind Waffen. Sie sind ein Kriegsvolk geworden, das von klein auf einen spartanischen Kriegsdrill erfährt. Ihr ganzes Denken ist geprägt von Hierarchien und dem Durchsetzen der eigenen Interessen mit militärischen Mitteln. Auch wenn es hier nicht die Gewinner:innen sind, die auf dem Mars leben, teilen sie das Schicksal mit all jenen, die aus einem unwirtlichen Planeten einen winzigen Lebensraum herauspressen wollen. Ein Ethos der Dominanz und Unterwerfung. Ähnliches prognostiziere ich für den Planeten B, ganz gleich wie bewohnbar er wird.

Meine These: Der Mars gehört den Menschenfeinden.

Nicht weil sie per se etwas gegen Menschen hätten, sondern weil dieser Planet B in einem kapitalistischen System nur deren grössten Gewinnern offen stünde. Man müsste schlicht die zurücklassen, die es nicht geschafft haben, sich ihr Ticket zu verdienen.

Raumschiff Egoismus

Raphael Warnock, Pastor und US-Senator für die Demokraten, findet diesen Geist in seinem Land, dem Land der ambitioniertesten Weltraumeskapist:innen, überall:

«I think, this obsession with winning the game is part of the spiritual problem that is afflicting the soul of our country.»

Diejenigen Wenigen dagegen, die kapitalistische Mantras wie «Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied«, «Leistung lohnt sich« oder «Nur die Harten kommen in den Garten« verkörpern, lieben und atmen, sind gleichermassen die, die eine Arche bauen und ein treibender Grund, warum es überhaupt einen Planeten B braucht.

«The Fountainhead» von Ayn Rand, eines der Lieblingsbücher des amerikanischen Libertarismus und superreichen Eliten, enthält die vielsagende Zeile:

«Die grossen Schöpfer, die Denker, die Künstler, die Forscher, die Erfinder,– immer standen sie allein gegen die Menschen ihrer Zeit. […] Doch sie siegten.»

Das ist das Ethos der Weltraumexpansion. Es ist kein Projekt der Freiheit der Menschheit, sondern der Freiheit des Einzelnen, des Starken, oder besser des Privilegierten. Und wenn Musk und seine Milliardärsfreund:innen wirklich eines Tages mit ihrer Arche auf dem Mars landen, dann um eine Gesellschaft des Individualismus, der Durchsetzungsstarken, der Egoistischen und der Gewinner zu begründen.

Ethos der Bewahrung

Die ursprüngliche Sintfluterzählung von der Arche Noahs geht etwas anders. Sie ist eingebunden in den grösseren Zusammenhang einer Schöpfungserzählung, die uns etwas über das Leben auf diesem wundervollen Planeten A lehrt. Sie erzählt vom Eingebundensein und von Gemeinschaft. Denn das Erste, was Noah tut, als er landet, ist nicht, sich ein Denkmal zu setzen und eine Flagge in den Boden zu rammen, sondern einen Weinberg zu bauen und einen Bund mit Gott zu schliessen, der sagt, so etwas darf nie wieder passieren.

Nie mehr soll die Menschheit an die Klippe der Auslöschung steuern, das verbirgt Gott seiner Schöpfung.

Noahs Geschichte kann ich heute nicht anders als prophetisch lesen. Der Auslöser des Untergangs in dieser archaischen Erzählung ist die Boshaftigkeit des Menschen: Eigennutz, Raffgier und Egoismus. Das Ethos der Marsreisenden.

Wir vielen Erdlinge aber, für die der Mars keine Option sein wird, sind Bewahrerinnen und Gärtner. Das Hebräische kennt dafür den Begriff der Zedaqah, den man mit «Gemeinschaftstreue» übersetzen kann. Er macht aus dem zugegebenermassen schwer vorstellbaren und fantastischen Bundesschluss Noahs mit Gott ein Prinzip. Es besagt, sowie Gott seine Macht zugunsten des Gedeihens der Menschen beschränkt, so soll Macht und Leben generell verteilt werden.

Nicht das Recht des Stärkeren, sondern das Recht des Nächsten, gelten hier.

Es enthält das Prinzip der Gleichheit aller Menschen als Gottes Ebenbilder. Ein Ethos der Bewahrung besagt, dass das Projekt Menschheit nicht schon darin gelingt, dass ein paar wenige Privilegierte auf einem anderen Planeten menschliche DNA im kleinen Kreise weitervererben.

So kann ich dem Gedanken des Weltraumeskapismus doch noch etwas abgewinnen. Wenn ich die Wahl habe, hier noch ein paar Jahre Weinberge zu pflanzen oder mich in der Schwerelosigkeit mit anderen Egomanen um einen Felsbrocken zu prügeln, bleibe ich gerne zurück und lasse die Eliten gehen. Die Gemeinschaft der Bewahrer:innen ist doch eher mein Vibe, merke ich.

 

Foto von Nicolas Lobos auf Unsplash

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