Beginnen wir mit der Gegenwart. Javier Milei hält auf dem WEF (Weltwirtschaftsforum) 2025 im klirrend kalten Davos eine durchaus nicht dumme Rede (hier auf YouTube).
Argentiniens anarchokapitalistischer Staatschef bietet in seinem «Freiheit, verdammt nochmal!» betitelten Vortrag die denkbar weiteste Dehnung des Begriffs Woke.
Nahezu jegliches Handeln des Staates, über den reinen «Nachtwächterstaat» oder Minimalstaat hinaus, fällt für den ultraliberalen und zugleich ultrakonservativen Ökonomen und Politiker unter Woke.
Also auch alle Tendenzen, Schwache mithilfe des Staates zu schützen: Frauen, Minderheiten aller Art (kulturell, ethnisch, sexuell, religiös), sozial Schwächere oder die Umwelt.
Das Ende der Freiheit?
Minimalstaatkompetenzen beschränken sich weitgehend auf Schutz von Eigentum gegen Feinde von innen und Militärabsicherung gegen Feinde von aussen.
Milei beschwört eine internationale Allianz gegen «Wokismus». Eine Allianz zur Beseitigung des linken Progressivismus – weil dieser jegliche «Freiheit» untergrabe.
Die «woke Kultur», ruft Milei den Wirtschaftsvertreter:innen, Spitzenpolitiker:innen und Lobbyist:innen zu, müsse «aus der menschlichen Spezies entfernt» werden.
Drehen wir die Zeit vier Jahre zurück. Im Duden finden im Jahr 2021 über 500 neue Worte Aufnahme: neben «Long Covid», «PCR-Test» und «Boosterimpfung» auch «Woke». Die Duden-Definition von «Woke»:
«in hohem Maß politisch wach und engagiert gegen Diskriminierung».
Wissen, was vorgeht
Der deutschsprachigen Öffentlichkeit ist der Ausdruck damals weitgehend unbekannt, auch mir als Kulturjournalistin. In klassischen Medien und Feuilletonseiten erscheinen erste Artikel.
Man spürte gleich: Das aus der angelsächsischen Welt migrierte Thema enthielt politisches Dynamit.
Ich plante damals einen Beitrag für RefLab und begann zu recherchieren. Das «Urban Dictionary» erklärte zur afroamerikanischen Ursprungsbedeutung:
«Being Woke means being aware. Knowing whats going on in the community.»
(«Woke sein bedeutet, aufmerksam zu sein. Zu wissen, was in der Gemeinschaft vor sich geht.»)
Vom Black Lives Matter Movement …
Im Kontext des Black Lives Matter Movement bezeichnete «Stay Woke» (#staywoke) ein Bewusstsein nicht nur für soziale Ungerechtigkeiten und Diskriminierung, sondern auch für die akute Gefahr, getötet zu werden. «Stay woke» konnte so gelesen werden:
Sei wach. Sieh’ dich vor; damit du nicht von einer Spazierfahrt mit den Kindern im Sarg zurückkehrst; bloss weil du eine andere Hautfarbe hast.
Bilder der grausamen Tötung von George Floyd am 25. Mai 2020 in Minneapolis durch einen weissen Polizisten hatten sich eingebrannt. Zuvor die Erschiessung von Michael Brown in Ferguson, Missouri, im Jahr 2014.
Woke war ein Aufruf zu Wachsamkeit, keine Selbstbezeichnung.
Strassenproteste weckten bei US-Bürger:innen Erinnerungen an vorangegangene Rassenunruhen. Bürgerkriegsangst lag in der Luft.
… zum rechten Kampfbegriff
Ich weitete meine Recherchen auf Social Media aus – und machte eine grausige Entdeckung: Social Media spuckte mir unter dem Suchbegriff «Woke» eine endlose Fontäne von Schmähungen und Hass entgegen, wie ich es zuvor nie gesehen hatte.
Die Schmähungen stammten augenscheinlich von aufgebrachten Weissen. Ich habe einige Zitate auf meinem Laptop abgelegt; Sie sind inzwischen historisch:
Life is great! When you’re away from the #woke crowd. Things honestly seem so normal 🙂
All they speak about is thisphobia and thatphobia. Gosh! Take a break guys and focus on your life! You have a 2.2 GPA and you’re out to change the world.
You’ll end up unemployed soon!
Don’t miss, Critical Theory is Systemically Brainwashing Us.
The first episode in @freethepeople’s new series, The Cult of Wokeness.
Der Kult der Wokeness
Wie konnte ein Watchword («stay woke») aus der schwarzen Community, das in den Internet-Jugendslang Aufnahme fand, Gegenstand von extremem Hate Speech werden?
Ich konnte das damals nicht zusammenbringen. Ich fand es tief verstörend und habe davon Abstand genommen, mich (eine weisshäutige Mitteleuropäerin) überhaupt zu «Wokeness» zu äussern.
Mir war klar: Meine Verstörung war ihrerseits woke.
In der Folgezeit erstarkte in den USA der «White Suprematism». Seine Grundlage: Gleichheit vor dem Gesetz ohne Bevorzugung. Jegliche Bevorzugung erhielt den Stempel: Woke.
Memefication und Kommerzialisierung
Nur vier Jahre später habe ich den Eindruck, das Wort millionenfach gehört zu haben. Eine Streitkultur ohne das Schlag-Wort Woke kann man sich heute kaum noch vorstellen.
Woke wurde auch bei uns in exzessiver Weise Gegenstand von kritischen, ironischen und spöttischen Social-Media-Memes, Postings und Kommentaren.
Obwohl wir eine vollkommen andere Geschichte als die USA haben. Und insbesondere von der Sklavereigeschichte weitaus geringer betroffen sind.
Wokeness wurde auch zu einem Marketingmittel («Woke Capitalism»). In Kleider- und Parfumshops wurde mir gutes Gewissen verkauft; eine Art moderner Ablasshandel.
Gleichzeitig fehlte es, auf Seiten der politischen Linken, nicht an bizarren Exzessen der Cancel Culture, des Deplatforming, der kategorischen Sprechverbote für Andersdenkende; was an religiöses Eiferertum erinnerte.
Shitstorm folgt auf Shitstorm
Hören wir kurz ins Netz:
Wokeness – Es geht nicht darum, in der Gesellschaft tatsächlich etwas zu bewegen. Sondern darum, dass ihr Menschen – öffentlichkeitswirksam! – moralisch belehrt&euch dabei gut fühlt. Denn IHR steht im Zentrum. Vergesst das nie.
»Diese #Woke-Menschen: von nix ‘ne Ahnung haben, aber lauthals plärren!« Es ist sowas von nervig.
Laut dem Kulturtheoretiker Diedrich Diederichsen («Don’t Cry Woke», 2024, «Berlin Review») benutzen den Ausdruck Woke mittlerweile fast nur noch AfDler, FPÖler und Putinisten, «und zwar als Zielscheibe rassistischer, aber auch antiintellektueller Aggressionen».
Ich kenne aber noch eine weitere Gruppe: Mitchrist:innen aus liberal-konservativen und fundamentalistischen Lagern.
Christliche Anti-Woke
Dezidiert «anti-woker» Content wird von manchen religiösen Internet-Plattformen mit grossem Eifer ventiliert. Ich beobachte das seit Jahren. Manches, was im rechtskatholischen Milieu kursiert, scheint inhaltlich von evangelikalen Plattformen aus den USA zu stammen.
Der Tonfall ist häufig apokalyptisch, politische Gegner werden dämonisiert.
Zuvor oftmals politisch uninteressierte Gläubige sehen sich inzwischen als «geistige Krieger» gegen Wokismus & Co. Sie lassen mich Sätze hören, auf die ich inzwischen nichts mehr erwidere – weil es nichts bringt.
«Trump ist gegen Abtreibung, deswegen beten wir in unserer kleinen Gebetsgruppe für den US-Präsidenten.»
«Alice Weidel redet zwar etwas schrill, aber in der Sache hat sie recht.»
«Die AfD ist mir sympathisch, sie ist gegen ‹Genderwahn›.»
Gläubige und Glaubensbereite im Netz sind ohne Zweifel Low-hanging-fruits für ideologische Strateg:innen. Die Zugehörigkeit zu intakten Glaubensgemeinschaften kann umgekehrt aber auch gegen Propaganda immunisieren, wie Studien zeigen (z.B. der Universitäten Bern und Leipzig).
Kampf gegen PC
Was heute an Kritik gegen «woke Kultur» ins Feld geführt wird, wurde schon einmal durchgespielt: in den 1980er-Jahren. Damals gab es den Ausdruck «Woke» noch nicht, aber «Political Correctness» (PC) oder «Gutmenschentum» («do-gooders»).
Der Begriff «Political Correctness» war im Kontext von amerikanischer Bürgerrechtsbewegung und Feminismus aufgekommen. In den 1980er-Jahren wurde PC zum konservativen Kampfbegriff umgedeutet.
Auch schon PC wurde vorgehalten, in Hypermoralismus und letztlich Anti-Christlichkeit zu kippen.
Religion der Opfer ohne Transzendenz
René Girard, konservativer französische Religionsphilosoph und Kulturanthropologe (er beeinflusste u.a. libertäre Tech-Grössen wie Peter Thiel; «Seeking God» ist ein aktueller Bericht über Thiel in der NYT betitelt), sprach von «Political Correctness» suggestiv als einer «Religion der Opfer, entkoppelt von jeglicher Transzendenz».
Christlichkeit werde durch «Political Correctness» stärker untergraben als durch jede offene Opposition, meinte Girard.
In die amerikanische Bürgerrechtsbewegung Mitte des vergangenen Jahrhunderts hatten sich zunächst auch viele Christ:innen und Kirchen nahtlos eingereiht.
Christ:innen unterstützten die gegen Rassismus und soziale Diskriminierung gerichtete Stossrichtung nicht nur, sie initiierten sie wesentlich mit (wie zuvor den Abolitionismus).
Zu einer Entfremdung kam es allerdings im Zuge einer forcierten Politik sexueller Befreiung. Die sexuelle Befreiung war traditionell eingestellten Christ:innen zu viel Freiheit.
Das Recht des Stärkeren
Und heute? Es kann von manchen Christ:innen noch so inbrünstig für libertär-konservative Politik gebetet werden. Am Ende wird trotzdem kein Christentum herauskommen, sondern ein Nietzscheanismus und Biologismus: das Recht des Stärkeren.
Während in den späten 1960er- und 1970er-Jahren die sexuelle Befreiung eine Enkopplung von der religiösen Allianz bewirkte, sehen wir heute, wie sich das Religiöse (in Teilen) von Sozialaspekten entkoppelt.
(Ökonomische) Freiheit vs. (soziale) Befreiung.
Libertär-konservative Freiheitsforderungen stellen sich heute zunehmend aggressiv gegen soziale Programme und jegliche (ordoliberale) Einhegung von Kapitaldynamiken. Das scheinbar konservative Pochen auf «familiäre Werte» entpuppt sich als Tabu, fiskal auf grosse Erbvermögen zuzugreifen und (Familien-)Grossunternehmen stärker zu besteuern.
Libertär-konservative Ideale stehen ökosozialer Gerechtigkeit und Befreiung entgegen, Identitätspolitiken wie auch Theologien der Befreiung.
Buen Vivir: ein neuer Weckruf
Man kann Mileis Davoser Rede auch als von ihm unbeabsichtigten Weckruf hören. Einen Weckruf, um im Herzen des Christlichen dasjenige zu verteidigen, was sozial, gerecht, menschen- und schöpfungsfreundlich ist.
Genau darum geht es beim lateinamerikanischen Konzept des «guten Lebens für alle», des «Buen Vivir». [1]
Bei diesem Konzept steht das Streben um ein Gleichgewicht mit der Natur, die Reduktion sozialer Ungleichheit, eine solidarische Wirtschaft und eine pluralistische Demokratie mit neuen Räumen zivilgesellschaftlicher Beteiligung im Zentrum.
Wenn das woke ist – dann lasst uns woke sein!
[1] Kürzlich stand eine Berner Veranstaltung im Zeichen dieses Konzepts. Sie war von diversen Bewegungen und auch der reformierten Kirche getragen und ehrte Ernesto Cardenal, den lateinamerikanischen Befreiungstheologen. Zu «Buen Vivir» siehe auch: «Pluriversum. Ein Lexikon des Guten Lebens für alle», hg. von Ashish Kothari, Ariel Salleh, Arturo Escobar, Federico Demaria und Alberto Acosta; überarbeitet Auflage 2024. Freier PDF-Download hier.
Foto von Melani Sosa auf Unsplash
2 Gedanken zu „Schrei nicht Woke, bitte!“
Toller Artikel, danke dafür. Und für mich deutlich erhellender als der FB-post, den ich mit den Kernsätzen von hier ohne Zusammenhang nicht verstand. Für mich als alter weißer Mann war woke inzwischen auch nur diese spezielle Zuspitzung auf dogmatisch erhobenen Zeigefinger. Dein Ansatz, ihn im Zusammenhang zu erklären und vor allem diesen Negativaspekt davon zu lösen (gab es schon mit PC), versöhnt mich doch deutlich mit dem Begriff woke.
Trotzdem glaube ich, dass der Begriff verbrannte Erde bleiben wird. Mir und anderen können solche Gedanken allerdings helfen, im eigenen Idealismus für eine Sache Dogmen und Intoleranz zu vermeiden.
Danke dafür.
Danke, dieser Kommentar freut mich sehr!