«Love everyone and tell the truth» [1] – das sah ich kürzlich als Zitat auf Instagram. Das Bild erhielt Zehntausende von Likes, unzählige Kommentare und wurde eifrig geteilt. Ein scheinbar universelles Mantra.
Auch ich dachte im ersten Moment: «Ja klar, logisch sollte man die Wahrheit sagen.»
Oder?
Doch schon im zweiten Moment erinnerte ich mich daran, dass die Realität nicht über Regeln kontrollierbar ist.
Angst hat gerne klare Regeln
Wenn ich so ein Zitat sehe, kann ich in mir selbst genau diese Spannung beobachten: Da ist zum einen die Angst, die gerne Regeln hätte. Zum andern ist da aber auch die Klarheit, die fühlt, dass das Verweilen im Unbekannten sicher ist.
Mit «Verweilen im Unbekannten» meine ich das Verweilen darin, nicht im Voraus zu wissen, wie ich mich in einer Situation verhalten werde. Wie ich zum Beispiel reagiere, was ich sage, was ich denke.
«Love everyone and tell the truth» – meine Angst nimmt das und bastelt daraus eine Regel. Diese lässt mich wissen, dass ich so ein guter Mensch sein kann.
Ganz banal: Wenn ich x tue und z lasse, dann kann ich wissen, dass ich es richtig mache, dass ich «gut» bin.
Unsere Angst (oder Konditionierung oder painbody) ist letzten Endes wenig intellektuell differenziert unterwegs.
Wann ist es liebevoller, etwas nicht zu sagen?
Wenn ich dann aber die Perspektive wechsle, quasi diese Brille von «welche Regeln muss ich befolgen, damit ich mich auf der sicheren Seite der guten Menschen wissen kann» abnehme, dann empfinde ich starre Regeln als sehr einengend. Wenig interessant.
Starre Regeln lassen wenig Platz für das Eigentliche, das Unbekannte, das Lebendige.
Eine situative Herangehensweise finde ich um einiges angebrachter. Und so ist es manchmal so viel liebevoller, eben nicht ungefiltert auszusprechen, was in meinem Kopf herumschwirrt. Oder zum Teil auch bewusst etwas für mich behalten.
Wenn Wahrheit auf taube Ohren stösst
Es gibt Situationen, in denen Ehrlichkeit keinen Sinn macht: Die Wahrheit würde nicht auf fruchtbaren Boden fallen und bloss verletzen.
Letztens erlebte ich das bei einem Treffen mit einem Bekannten.
Wir haben uns auf ein Bier getroffen – doch als ich ankam, war er bereits betrunken. Es war klar, dass zwar Interesse am Austausch da ist, doch leider fehlte der Platz oder die Offenheit, wirklich zuzuhören, ohne bereits zu interpretieren.
In diesem Beispiel war mein Gegenüber nicht bloss betrunken, sondern auch so sehr in seine eigenen Geschichten und Überzeugungen verwickelt, dass kein Raum für eine ehrliche, wahrhaftige Begegnung da war.
Wirkliches Zuhören, ohne voreilige Interpretationen oder Urteile, ist eine Kunst. Das sind hohe Ansprüche an ein Gespräch, ich weiss.
Ich bin ich jedes Mal überrascht, wie selten diese Fähigkeit anzutreffen ist. Doch wenn ich merke, dass meine Offenheit oder Ehrlichkeit auf zementierte Meinungen und Geschichten trifft, erscheint es mir sinnlos, ehrlich zu sein.
Die Kunst des selektiven Umgangs mit Wahrheit
In solchen Momenten lüge ich öppedie. Erfinde etwa Gründe, weshalb ich bei diesem oder jenem nicht mitmachen kann.
Sage, «oh wie schön, danke vielmals», auch zu Weihnachtsgeschenken, die mir überhaupt nicht gefallen.
Manchmal wird das als feige bezeichnet. Vielleicht ist es aber auch einfach ein bewusster Umgang mit meiner Energie. Ich entscheide, wo es sich lohnt, meine Wahrheiten zu investieren – und wo nicht.
Einerseits spielt dabei, wie bereits erwähnt, eine Rolle, ob mein Gegenüber ein «dieses Geschenk gefällt mir nicht» hören kann, ohne gleich in die Gedankenspirale zu fallen, «ich mache immer alles falsch» oder «sie liebt mich nicht».
Andererseits geht es für mich auch darum, ob ich mit jemandem mehr Nähe leben möchte – dann lohnt sich diese konfrontative Auseinandersetzung auf jeden Fall.
Denn das ist es, was geschieht, wenn wir uns auf echte Begegnungen einlassen, Begegnungen, in denen alle Beteiligten ihre vorgefassten Meinungen und Konzepte ablegen und sich einander «leer» zuwenden: Hier entsteht grosse Intimität. Unglaublich schön, erfüllend, egal in welchem Kontext.
Doch es ist auch eine Intimität, die ich nicht mit allen Menschen teilen muss oder möchte.
Fazit: Lügen ist Teil der Liebe
Manchmal scheint es mir also vollkommen angebracht, nicht ehrlich zu sein oder sogar zu lügen. Nicht aus Böswilligkeit, sondern aus einem Bewusstsein dafür, was die Situation gerade braucht. Und zwar aus einer Haltung vom Nicht-Wissen heraus:
Ich begegne der Situation «leer», habe nicht bereits vorgefertigte Konzepte, aus denen ich handle.
Ja, Autopilotverhalten ist definitiv ein Verpassen des Moments und eifach echli schad. Klar, ich fände es in manchen Momenten natürli au toll, im Voraus zu wissen. Wenigstens eine Regel an der Hand zu haben, come on.
Doch meine Praxis ist es, immer wieder leer zu werden. So dass es die Aufmerksamkeit oder das Leben ist, das durch «Leela» handelt. Immer wieder von Neuem ein den «Fuss in die Luft setzen». [2]
Ehrlichkeit ist Geschenk, nicht Selbstzweck
Im Fall des Biers mit meinem Bekannten hiess das für mich: Ein klares «Nei danke» für zukünftige Anfragen von jener Seite und eine Notlüge, um aus der Situation herauszukommen.
Klar, auch ich würde sagen, dass Ehrlichkeit ein wertvolles Geschenk sein kann. Ein Geschenk, kein Selbstzweck. Und so ist manchmal das Liebevollste, was wir tun können – eben zu lügen.
[1] Übersetzt: «Liebe alle und sag die Wahrheit.»
[2] Nach dem Satz der deutschen Lyrikerin Hilde Domin, den sie in einem Brief an ihrem Bruder schrieb: «Ich setzte den Fuss in die Luft / und sie trug.»
Foto von Ditto Bowo auf Unsplash