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 Lesedauer: 5 Minuten

Die Tränen der anderen

So war das nicht geplant gewesen: Ich war im Zug unterwegs nach Walenstadt, von wo aus ich an diesem spätsommerlichen Tag zwischen dem See und den Churfirsten nach Weesen joggen wollte. Doch dann kam ein Anruf, ein Gespräch, das unerwartet emotional wurde. Nach ein paar Minuten flossen bei mir die Tränen. Ich versuchte, mich im mit fröhlichen Wanderern vollen Zug so unsichtbar wie möglich zu machen, und stand im Durchgang zwischen zwei Wagen. Mit dem Jackenärmel wischte ich die Tränen weg, während ich telefonierte. Als sich die Tür zum nächsten Wagen öffnete, wendete ich mich ab, doch die Person blieb vor mir stehen: Der etwa gleichaltrige Mann hatte mich durch das Fenster in der Tür weinen sehen und brachte mir Taschentücher. Eine Geste, die mich tief berührte.

Ob Tränen entsetzte Blicke ernten oder Trost und Verständnis, ob Menschen sich abkehren oder sogar mitweinen, entscheidet darüber, ob wir uns danach besser oder schlechter fühlen.

Ich bin nahe am Wasser gebaut – wenn mich etwas bewegt, sind Tränen nicht weit. Das kann ein klärendes Gespräch mit einer mir nahestehenden Person sein, eine berührende Filmszene, ein überwältigendes Naturerlebnis. Vielleicht hätte ich lieber eine etwas höhere Wein-Schwelle, aber generell halte ich Tränen für etwas Gesundes. Manchmal kann es sogar etwas Heiliges haben, wenn jemand weint und ein sicherer, intimer Raum dafür da ist.

So fand ich es hoch spannend, dass diese Woche im TagesAnzeiger ein Artikel über eine niederländische Studie erschien, in der Psycholog*innen das Weinen erforschten. Warum weinen wir, welche verschiedenen Arten des Weinens gibt es? Warum weinen Frauen häufiger als Männer? Welche Auslöser für Tränen gibt es?

Die Reaktion anderer Menschen, wenn jemand weint, fehlte jedoch im Artikel.

Dabei ist sie absolut zentral dafür, wie wir unser Weinen wahrnehmen. So habe ich mir die Studie selber beschafft und nachgelesen, was die Forscher*innen über den zwischenmenschlichen Aspekt des Weinens schreiben. Interessanterweise ist dies einer der Schwerpunkte der Studie, wie ich herausfand.

Weinen als Kommunikationsmöglichkeit

Denn Weinen hat – so haben die Forschungen bestätigt – eine wichtige kommunikative Funktion. Es dient nicht nur als emotionales Ventil, sondern dazu, Beziehungen zu fördern. Kleinkinder setzen Weinen «manipulativ» ein, um die Aufmerksamkeit der Eltern zu erhalten. Oft drückt Weinen einen Trennungsschmerz oder eine Verlustangst aus, kommuniziert (bewusst oder unbewusst) das Bedürfnis nach Trost und Mitgefühl. Freudentränen können Offenheit und Wärme ausdrücken und dass jemand eine positive Einstellung zu anderen Anwesenden hat. Aus dieser kommunikativen Perspektive ergibt es durchaus Sinn, in Anwesenheit anderer Menschen zu weinen.

Aber ist das nicht auch ein Risiko?

4 Faktoren, damit Tränen heilsam sind

Die Wissenschafter*innen untersuchten, welche Faktoren gegeben sein müssen, damit Menschen ihr Weinen in einer solchen Situation als «emotional positiv» einstufen. Das heisst, dass es ihnen also danach besser geht. Die Chancen dafür steigen, wenn:

  • jemand Nahestehendes dabei ist (und nicht Fremde)
  • die betreffenden Personen (sowohl Weinende als auch Aussenstehende*r) der Auffassung sind, dass Weinen generell einen positiven Effekt haben kann
  • Weinen nicht der kulturellen Norm zuwiderläuft
  • die Aussenstehenden unterstützend, tröstend reagieren

Interessanterweise hängt der letzte Punkt vom Auslöser der Tränen ab: Menschen reagieren eher mit Trost und Verständnis, wenn der Grund für das Weinen als gerechtfertigt angesehen wird. Etwa bei Trauer, Erleichterung, Freude oder Angst. Viel weniger jedoch, wenn jemand nach Kritik, aus Selbstmitleid oder Inkompetenz weint.

Weinen kann also durchaus heilsam und klärend sein, es ist aber auch ein Kontrollverlust, der das Risiko von Ablehnung beinhält. Erst recht, wenn jemand weint, von dem man es eigentlich nicht erwarten würde.

Wenn der starke Mann weint

Das Bild zum Tagi-Artikel zeigt Schwingerkönig Matthias Sempach direkt nach seinem Sieg 2013. Da steht dieser Hüne von einem Mann, mit Armen so kräftig wie anderer Leute Beine, schlägt die Hand vor die Augen und schluchzt. Moderator Dagobert Cahannes legt ihm tröstend seine Linke auf die Schulter, während er mit der Rechten das Mikrofon hält und spricht.

Trotz der maximalen Öffentlichkeit, mit Publikum und live TV-Übertragung, entsteht durch die unterstützende Geste ein «safe space», ein sicherer Raum.

Der Kontrollverlust, den das Weinen bedeutet, wird aufgefangen und die beistehende Person stellt sich schützend daneben. Das Gleiche geschieht, wenn Roger Federer nach einem Sieg die Tränen nicht mehr zurückhalten kann und das Publikum ihn dafür nicht ausbuht, sondern umso mehr seine Sympathie bekräftigt. Es wird ein Raum geschaffen, in dem das Weinen OK ist.

Auch für Männer.

Hier könnte man von einem Kulturwandel sprechen. Doch vermutlich – und das Folgende findet sich nicht in der Studie, sondern ist mein Verdacht – spielt eine grosse Rolle, ob die Person, die weint, ansonsten als stark und souverän wahrgenommen wird. Während es für als «männlich» wahrgenommene Menschen sozial akzeptabler wird, Emotionen zu zeigen, ist es bei allen anderen in der Öffentlichkeit immer noch ein Zeichen von Schwäche.

Ein «safe Space» für die Weinenden

Umso wichtiger ist es, dass von denen, die der weinenden Person am nächsten sind, ein «safe Space» geschaffen wird. Das bedeutet, nicht wegzuschauen, sondern Anteil zu nehmen, ohne übergriffig zu sein. Das kann so eine kleine Geste sein wie das Anbieten eines Taschentuchs im Zug, bis hin dazu, dass man mit einer guten Freund*in mitweint.

Ein solcher emotionaler «Raum» schützt gegen innen: Damit die weinende Person merkt, dass sie nicht alleine ist und jemand mitfühlt. Und gegen aussen: Indem Solidarität signalisiert wird und mögliche Störungen schützend abgewehrt werden können. Dann kann aus dem «safe Space» sogar ein «holy Space» werden – ein Raum, in dem Tränen wirklich heilsam sind.

 

Mit dem Tagi-Artikel «Warum weinen wir Menschen?» war ich zu Gast in der SRF-Kultur-Sendung «Blick in die Feuilletons». Die Sendung kann hier nachgehört werden.

Foto von cottonbro von Pexels

1 Kommentar zu „Die Tränen der anderen“

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