Dein digitales Lagerfeuer
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Integration des Lichts

Manche Menschen sagen, dass sie keinen Sinn darin sehen, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, der Kindheit, dem Leben der Eltern oder Grosseltern. Sie haben ein mehr oder weniger stabiles Bild der Vergangenheit gebildet und sagen: »Wozu rütteln an Verdrängtem. Weshalb in der Vergangenheit ›herumstochern‹, wo es doch darum geht, im Hier und Jetzt zu leben.« Sie sagen auch: »Das Gewesene interessiert mich nicht.«

Ich habe diese Skepsis gegenüber der ›Aufarbeitung‹ der Geschichte lange Zeit geteilt, bis ich festgestellt habe, dass es tatsächlich Unbewältigtes gab: merkwürdige Schatten, die nicht nur mit mir selbst zu tun hatten, mich aber beharrlich begleiteten, mein Handeln mitbestimmten und Beziehungen belasteten, eine verzerrte Wahrnehmung meiner selbst und ein ungerechter Blick auf das Leben der Ahnen aus Mangel an Wissen, Verstehen, Verständnis und Verzeihen.

Die verlorene Zeit

Mit ähnlichen Problemen hat sich offenbar Marcel Proust herumgeschlagen. Der französische Schriftsteller hat der Betrachtung von Prozessen des Sich-Erinnerns mehr als 3000 Seiten gewidmet. Bei der Lektüre seines Mammutwerks »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« blieb ich an einer Stelle hängen, in der der Autor einen ›keltischen Aberglauben‹ erwähnt, den er in anthropologischen Werken seiner Zeit beschrieben fand und der von beseelten Dingen handelt:

»Ich finde einen keltischen Aberglauben sehr vernünftig, nach dem die Seelen der Lieben, die uns verlassen haben, in irgendein Wesen untergeordneter Art gebannt bleiben, ein Tier, eine Pflanze, ein unbelebtes Ding, tatsächlich verloren für uns bis zu jenem Tag, der für viele niemals kommt, an dem wir zufällig an dem Baum vorbeigehen oder in den Besitz des Dinges gelangen, in dem sie eingeschlossen sind. Dann horchen sie bebend auf, rufen uns an, und sobald wir sie erkennen, ist der Zauber gebrochen. Erlöst durch uns, besiegen sie den Tod und kehren ins Leben zu uns zurück.« [1]

Abergläubisch wäre es zu meinen, in Dingen hausen ›Geister‹ Verstorbener unabhängig vom Bewusstsein der Lebenden, aber es ist fraglich, ob das in vergangenen Kulturen tatsächlich so naiv gedacht worden ist. Vielmehr überwiegen Indizien eines erstaunlich präzisen psychologischen Wissens der Ahnen, und dies scheint den französischen Schriftsteller interessiert zu haben. Deswegen vielleicht die paradoxe Formulierung des ›vernünftigen Aberglaubens‹.

Geisterbeschwörung

Unbestreitbar ist, und dafür liefern nicht nur Proust und andere Schriftsteller, sondern auch moderne Hirnforscher Hinweise, dass Erinnerungen häufig verknüpft sind mit bestimmten Empfindungen und dass Objekte – das bestickte Taschentuch der Grossmutter, das Bild des Geliebten, die Füllfeder des Onkels – das intensive Gefühl der Präsenz einer entfernten oder bereits verstorbenen Personen in uns wachrufen können.

Insofern sind in Objekten also doch Geister eingeschlossen ­– und wenn wir bestimmte Dinge berühren, berühren sie uns. Die angeführte Liste beseelter Dinge lässt sich ergänzen um Melodien, Gerüche oder Geschmack.

Das sinnliche Gedächtnis reicht besonders tief, nämlich in die Zeit vor dem individuellen Spracherwerb, vor dem Auftauchen des Bewusstseins. Wir können uns vermittelt durch das sinnliche Gedächtnis – fast paradox – an vorbewusste Erlebnisse ›erinnern‹. Die Epigenetik geht sogar noch einen Schritt weiter und untersucht die transgenerationale Weitergabe von Erfahrungen.

Proust räumt Formen unwillentlicher Erinnerung (›mémoire involontaire‹) einen höheren Stellenwert bei der Selbsterkenntnis ein als der bewusst herbeigeführten Erinnerung (›mémoire volontaire‹). In der Unterscheidung von bewusstem und unbewusstem Gedächtnis zeigt sich eine Parallele zu Prousts Zeitgenossen Sigmund Freud.

Zurück im Haus der Grosseltern

Die Schlüsselstelle in Marcel Prousts Erinnerungsroman ist eine beglückende Wiedererinnerung, die Madeleine-Episode: Als die Krümel des in Lindenblütentee getunkten muschelförmigen Buttergebäcks den Gaumen des Protagonisten berühren, nimmt er nicht nur den Rum- und Zitronengeschmack der Petite Madeleine wahr, sondern es tauchen vergessene Glücksgefühle auf und überschwemmen das Bewusstsein wie eine Droge.

Von der Madeleine-Episode als Beispiel des sinnlichen Gedächtnisses in Verbindung mit einem scheinbaren Zufall – an einem Winterabend überredet die Mutter den erwachsenen Sohn gegen dessen Gewohnheit einen heissen Tee zu sich zu nehmen und reicht dazu eine Madeleine –, ist der psychologische ›Madeleine-Effekt‹ oder ›Proust-Effekt‹ abgeleitet.

Es wäre zu kurz gegriffen, wenn das Besondere des Madeleine-Effekts in einem sentimental gefärbten Erinnerungsereignis gesehen würde. Der Madeleine-Episode kommt in dem Roman vielmehr eine Schlüsselrolle zu, weil sie den Weg freimacht für ein umfassenderes Bild der Kindheit.

Die Romafigur erinnert sich, als Kind den Geschmack im Salon einer bettlägrigen Tante vor dem Besuch des sonntäglichen Gottesdienstes kennengelernt zu haben. Mit dem überraschenden Geschmackserlebnis tauchen in einem Gemälde aus Grautönen mit einem Schlag vergessene Farben wieder auf und Erinnerungen an Menschen und Lieblingsplätze der Kindheit und Jugend bekommen im Bewusstsein erneut Raum.

Die Erschaffung der Vergangenheit

Auf einmal ist der Ich-Erzähler wieder im Haus der Grosseltern in einer französischen Kleinstadt und durchlebt noch einmal die Gefühle des Kindes, allerdings mit dem Distanzierungsvermögen des Erwachsenen. Die Madeleine ebnet letztendlich den Weg für einen freieren, kreativeren Umgang mit der Vergangenheit, die in gewisser Weise im Erinnerungs- und Schreibprozess neu erschaffen wird. Proust spricht davon, ein »dunkles Land« zu erforschen, ja zu erschaffen, dass er, der Forscher, selbst ist.

Erinnerung kann überlagert, überschattet, blockiert oder verzerrt sein durch traumatisches Erleben.

Im Falle Prousts bestand die Belastung in einem klassisch ödipalen Konflikt in Verbindung mit der Kränklichkeit des Kindes. Schwere Asthma-Anfälle, die beim Neunjährigen auftraten, versetzten das Kind in Todesangst und veranlassten Erwachsene zu Übervorsicht, die Proust später sich selbst gegenüber walten liess.

Nach landläufiger Meinung sind vor allem düstere Erlebnisse von Verdrängung betroffen. Die Sorge, Leichen im Keller der Familie vorzufinden oder ›skeletons in the cupboard‹ kann psychische Expeditionen von vornherein entmutigen. Vielfach übersehen wird, dass auch Glück verdrängt werden kann.

Man liebt sein Symptom – wie sich selbst

Mitunter scheinen wir mit negativen Selbstbildern besser leben zu können als mit positiven, was paradox ist. Es kann tatsächlich schwierig sein, eine positive Sichtweise oder auch nur ein wenig Humor bei der Selbstanalyse zuzulassen. Man liebt sein Symptom und möchte es nicht missen. [2] Da aber Trauma ›gefrorene Energie‹ ist, lassen sich bei einer geglückten Auflösung auch angenehme Nebeneffekte erwarten: psychische Gletscherschmelze, seelisches Tauwetter, vielleicht sogar die Entdeckung lebendiger Quellen und blühender Haine.

Mein eigener Blick zurück fühlte sich an als würde ich verwitterte Stufen zu meiner Kindheit hinabsteigen und Erinnerungsräume lüften. Der Prozess war von intensivem Traumleben begleitet. Ich träumte, dass ich wieder in den Zimmern meiner Kindheit stehe, nunmehr als Erwachsene, und mir alles genau ansehe, mich teilweise wundere und auch Bedauern fühle. Auslöser war ein zufälliges, aber umwälzendes Ereignis, das die individuelle und familiäre Biografie in einem neuen Licht und überraschend frei zu betrachten erlaubte.

Ich habe anschliessend eine Liste mit Erinnerungen gemacht, guten und schlechten. Es waren mehr gute dabei als ich gedacht hätte. C. G. Jung hat auf die Bedeutung der ›Integration der Schatten‹ hingewiesen, die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit der düsteren Seite der eigenen Persönlichkeit und Identität. Was aber, wenn die ›Integration des Lichts‹ genauso wichtig ist?

 

[1] Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Werke II, Band I, Unterwegs zu Swann, Hg. Luzius Keller, Frankfurt a.M., Suhrkamp 1994, S. 66.

[2] Vgl. Slavoj Žižek, Liebe Dein Symptom wie Dich selbst!: Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien, Berlin: Merve Verlag 1991.

Photo by Jonathan Pielmayer on Unsplash

1 Gedanke zu „Integration des Lichts“

  1. Es wurde hier die Epigenetik angesprochen. Die Epigenetik könnte uns gerade die grundsätzliche Möglichkeit der Erinnerung an unsere früheren Erdenleben bewusst machen. Bei Kindern, besonders solchen, die im vorhergehende Erdenleben einen gewaltsamen Tod erlitten, treten solche Erinnerungen sehr häufig auf.
    Grundsätzliches im Zusammenhang von Epigenetik und Reinkarnation habe ich in meiner Arbeit “Genetik-Reinkarnation-Kirche” erörtert. Für Interessierte:
    https://www.academia.edu/37936734/Genetik_Reinkarnation_Kirche

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