Ich denke in den letzten Tagen sehr viel an meine Grossmutter. Ich denke auch sonst oft an sie, aber in letzter Zeit denke ich über sie, ihre Krankheit und ihr Sterben nach.
Zu ihr hatte ich eine spezielle Beziehung. Auch in meinen aufmüpfigen Teenagerjahren, in denen es mir oft an Geduld und Güte im Umgang mit anderen Menschen – vor allem mit Erwachsenen – gemangelt hat, war unsere Beziehung sanft. Ihre schier bedingungslose Loyalität und ihre Gabe, mich zu verstehen, dort wo ich mir selbst dunkel war, hat mir ihr gegenüber die Nachsicht geschenkt, die ab und an auch nötig war, wenn man mit ihr zu tun hatte. Ich hatte dabei nie das Gefühl, ihr etwas vorzuspielen, und nur selten hat sie mich an die Grenzen meiner kleinen Geduld gebracht.
Klare Rahmenbedingungen
Sie hatte Stil und freute sich an schönen Dingen – und sehr früh schon am Internet. Nachdem sie mir das Autofahren beigebracht hatte und ihre Krankheit immer schlimmer wurde, habe ich sie manchmal zu ihren Arztterminen ins Berner Inselspital gefahren. Ihre Internetrecherchen haben sie zu einer gut informierten Patientin gemacht. Sie hat sich sehr darum bemüht, abschätzen zu können, ob die jeweils vorgeschlagene Behandlung ihre Lebensqualität erhöhen, oder nur ihre Leidenszeit verlängern werde. Sie wollte wissen, wie sie sterben würde, wenn man die Behandlung abbräche. Und sie hat klare Rahmenbedingungen gesetzt: Nicht nochmals ins Spital, kein Pflegeheim, keine Darmspiegelungen mehr.
Überleben war für sie kein Wert an sich. Sie wollte leben. Freundinnen treffen, reisen, kochen, shoppen, Bücher und Zeitschriften lesen, mich in Basel besuchen und Auto fahren.
Angst oder Leben
Ziemlich früh wusste ich von ihrer Exit-Mitgliedschaft. Ich habe das nie bedrohlich gefunden, sondern darin ihren Weg gesehen, an der überlebenswichtigen Illusion selbstbestimmten Lebens und Sterbens festzuhalten. Vielleicht würde sie, gerade weil sie um die Möglichkeit weiss – diese Hilfe gar nicht brauchen? Und ich habe ihr so sehr gewünscht, dass sie bis dahin auch ihre Verhaftung in alten Kränkungen und enttäuschenden Beziehungen lösen kann.
Als sie mir dann aber im Herbst sagte, dass dies ihr letztes Weihnachtsfest und ihr letzter Geburtstag sein werde, dass sie sich entschlossen habe, mit Exit zu sterben, dass sie dazu auch schon ein Gespräch mit einer Sterbebegleiterin vereinbart habe, da wusste ich, dass es nicht so ausgehen würde.
Es war nicht ein freier, selbstbestimmter Entscheid, kein Loslassen oder Sich-Hingeben. Sie konnte einfach nicht mehr. Sie hat auch nicht so sehr gehofft, dass nach diesem Leben etwas Besseres kommt, sondern nur, dass die Angst zu ersticken, der Schmerz durch die blutenden Fingerkuppen, das Schwindelgefühl endlich weg sind.
Sonntag, in zwei Wochen
Wir haben dann, nach diesem Gespräch, den engsten Familienkreis eingeweiht und einen Termin gesucht, der allen von uns, die dabei sein wollten, passt. „Freitag? Oder doch lieber Sonntag? Montag ginge auch, sonst erst wieder nächste Woche.“ „Dann Sonntag.“ Zwei Tage länger als Freitag, aber ein Tag weniger als Montag – so haben die Terminkalender und Verpflichtungen der Familienmitglieder und Sterbebegleiterin entschieden.
Man muss das wohl so machen. Aber die Zeit bis zum Todespunkt war für mich schwierig: Ist es in Ordnung jetzt auszugehen, Serien zu schauen, sich mit Freunden zum Klettern zu treffen? Müsste ich jetzt nicht bei ihr sein? Würde sie das umstimmen? Würde ich wollen, dass es sie umstimmt? Den ganzen Freitag habe ich mit ihr verbracht. Mit kochen, etwas aufräumen und Besorgungen. Wir haben es bei der wöchentlichen Visite am Freitagabend ihrem Hausarzt erzählt, der sehr viel freundlicher reagiert hat, als meine Grossmutter das erwartet hätte. Und dann hat sie mich gebeten, nach dem Grab ihres Mannes zu sehen. Nicht dass die Familie schlecht von ihr denkt, wenn sie bei ihrer Beerdigung bei meinem Grossvater vorbei kommen wird.
Wieder Normalität
Und dann kommt der Sonntagmorgen. Früher als erwartet, nach langer Zeit. Das Natrium-Pentobarbital konnte sie nicht mehr trinken. Deshalb war ein Mitarbeiter von Exit dabei, der die Infusion vorbereitet hat. Sohn und Tochter, Enkel und Schwiegersohn haben sich ums Bett versammelt. Wir verabschieden uns von ihr und trinken einen letzten Campari mit. Ich setze mich auf das Bett, unter dessen Decke ich mich als Kind in der Nacht oft verkrochen habe. Sie hält meine Hand, muss dann loslassen um den Infusionshahn zu drehen, hält sie wieder, atmet ein, aus und ein und aus. Es geht sehr schnell. Aber es geht sehr lange, bis ich diese Hand loslassen kann.
Und dann tritt zum ersten Mal wieder Normalität ein. Jetzt kann man nichts mehr verhindern. Jetzt hat sie Fakten geschaffen. Immer wieder denke ich an diese letzte Entschlossenheit zurück, wie sie mit ihren schmerzenden Fingern diesen kleinen Plastikhahn gedreht hat.
Selbstbestimmt, nicht frei
Mir ist seitdem jede Verherrlichung des „Freitods“ als freie Entscheidung oder Ausdruck selbstverantwortlichen Handelns suspekt. Hinter dem Todeswunsch meiner Grossmutter stand mehr als ein Wunsch nach sanftem Sterben: Es war die Unerträglichkeit, so weiterleben zu müssen.
Auch für uns Angehörige war das schwierig. Ich hatte sogar innerhalb der weiteren Familie Mühe darüber zu sprechen. Würden sie nicht alle – wenigstens insgeheim – denken, dass ich sie halt einfach mehr hätte besuchen, öfters hätte anrufen sollen?
Zu Wort kommen
Sie hat sich gewünscht, nach ihrem Tod ein Stern zu sein, der uns sieht und auf diese Weise weiter an unserem Leben teilhaben kann. Ich glaube leider nicht, dass das geht. Aber wenn es so wäre, dann würde gerade dieser Stern – meine Grossmutter hatte ein sehr ambivalentes Verhältnis zur Kirche – ganz schön darüber staunen, wie behutsam der Pfarrer mit uns umgegangen ist. Weil er zuhören konnte, haben wir den Mut gefunden, darüber zu sprechen. Er hat dieser surrealen Wartezeit, dem unsicheren Familienbündnis im engsten Kreis und der Zeugenschaft eines gelungenen Lebens, das am Schluss scheitern musste, achtsam diejenige Normalität zugesprochen, die ich spüren musste, um ab da, zaghaft zuerst nur, solange Worte zu finden und auszusprechen, bis ich dieses ungewöhnliche Sterben in das aussergewöhnliche Leben meiner Grossmutter einordnen konnte.