Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 4 Minuten

Du musst nicht Recht haben.

Egal ob es um Rassismus, sexuelle Grenzverletzungen oder Diskriminierung von Frauen geht: Der gesellschaftliche Diskurs erfolgt nach einem festen Drehbuch. Zuerst betreten die Empörten die Bühne. Sie sind ergriffen von der Ungerechtigkeit, solidarisieren sich mit den Opfern und fordern Gerechtigkeit. Kaum haben sie gesprochen, betritt der Medienchor die Bühne. Jetzt wird zugespitzt. Wie ein Mantra wiederholen sie Vorwürfe, werden bei jeder Strophe etwas lauter, etwas gleichgetakteter und etwas pointierter. Und spekulativer. Gleichzeitig formiert sich ein Männerchor mit profilierungssüchtigen Tenören: Sie singen das Hohe Lied der liberalen Gesellschaft:

„Freude, schöne Privilegien, Freiheit aus dem Grundgesetz, Wir fallen zigarrenrauchend, Gütiges in dein Auffangnetz. Du gibst uns die Freiheit wieder, der uns Weiber/Linke/Gutmenschen/ List beraubt; Establishment wird Elite, wo dein sanfter Flügel weilt.“

Chor

„Unser Schuldbuch sei vernichtet!
ausgesöhnt die ganze Welt!
Brüder – überm Sternenzelt
richtet Gott wie wir gerichtet.“ (1)

Man erträgt den Lärm kaum

Das Publikum erträgt diesen Lärm kaum. Man vergisst, worum es eigentlich geht. Nicht darum, ob es Notwehr oder Mord, Locker-Room-Talk oder Nötigung, strafrechtlich relevant oder nur moralisch verwerflich ist. Sondern darum, dass Menschen darauf aufmerksam machen, dass ihnen und anderen Unrecht geschieht.

Es geht – zum Beispiel bei – nicht zuerst um das Strafrecht. Es geht um unsere Kultur. Und es geht nicht hauptsächlich um einzelne böse Männer, sondern um Seilschaften, Betriebskulturen und Machtklüngel, die Missbrauch, Demütigung und Diskriminierung, die juristisch fast nicht zu belangen aber nichts desto weniger moralisch verwerflich sind, in den individuellen Freiheitsbereich der Mächtigen rücken. Es geht um unsere Strukturen und um Muster.

Es geht – zum Beispiel bei George Floyd – nicht um Grenzen der Polizeigewalt. Nicht um die juristische Einordnung der Tat dieser vier Polizisten. Es geht um die Welt, in der diese vier Polizisten zu Polizisten geworden sind. Darum, dass es sogar jetzt noch Menschen gibt, die diese Lynchjustiz vor den Augen aller verteidigen wollen. Dass ein Präsident, der unter den Demonstranten von Charlotte „einige sehr, sehr gute Leute“ fand, jetzt mit der Armee droht und danach eine Bibel in die Hand nimmt. Es geht um Strukturen und um Muster.

Es bleibt Theater

Die Medien interessieren sich für die bösen Männer, für ihre Skandale. Der Weisse Männer-Chor fragt refrainartig, ob die Vorwürfe bewiesen, die Beschuldigten angeklagt oder ob vielmehr die möglichen Täter nicht doch Opfer seien. Und das tut den Zuschauern gut: Die Mörder, die Vergewaltiger und die Betrüger werden verurteilt. Und mit all denen haben sie nichts zu schaffen. Es bleibt Theater. Und sie können sich beim nächsten Mal wieder zuflüstern: „Vielleicht hat der Polizist ganz schlimme Dinge erlebt mit Schwarzen…“ Oder: „Mord ist das erst, wenn er es absichtlich gemacht hat…“ Oder: „Weisst du, es gibt schon auch viele Frauen, die es drauf anlegen…“

Man hört sich selbst kaum

Es brauchte ein Video, bei dem man dem langsamen Sterben und eiskalten Töten zusehen konnte, damit das Publikum zuhört. Und sogar dann relativieren manche das rassistische Motiv. Und schon reden wir wieder darüber, dass gewaltsame Demonstrationen und Plünderungen nicht in Ordnung sind. Was wir alle gehört haben in uns, wenn wir das Video gesehen oder die Tonaufnahme dieser Tötung gehört haben, war keine Frage. Es war nicht der Ruf nach einer juristischen Einordnung der Polizeigewalt. Wir wollten nicht wissen, ob und allenfalls welche Vorerkrankungen George Floyd hat. Das Unrecht hat uns betroffen gemacht. Wir hätten schreien können.

Es brauchte Millionen von Frauen, die unter dem darüber erzählt haben, dass sie Opfer sexistischer Grenzverletzungen geworden sind. Meine Frage war nicht: Oh, Grenzverletzungen. Was bedeutet das? Ist das strafrechtlich relevant? Können sie es alle beweisen? Warum klagen sie die Täter nicht an? Und ich habe auch nicht gedacht: Ja, aber es gibt sicher auch Frauen, die Abhängigkeiten ausnutzen. Ich hatte in dem Moment nur eine Frage: Bin ich Teil dieser Ungerechtigkeit? Aber die Chöre haben gesungen. Man hat einzelne Täter durch die Arena geschleift. Und man hat uns erklärt, dass ein gewisser Sexismus nicht schlecht sei, sondern zu unserer nichtprüden, nichtpuritanischen, lateinischen Kultur gehöre. Wir hätten schreien sollen.

Recht genügt nicht

Unrecht erkennen wir aus der Erfahrung von Unrecht. Wir werden sprachlos. Wir fühlen mit. Wir möchten, dass es aufhört. Das Gegenstück zum Unrecht ist nicht das Recht, das gesprochen wird. Das Recht regelt nur unsere Ansprüche untereinander. Aber wir schulden uns viel mehr als das. Und wir dürfen voneinander weit mehr erhoffen als das. Wir, das sind nicht wir, die wir von einer Rechtssprechung betroffen sind. Nicht wir, im Sinne einer Gesellschaft. Wir, das ist die Gemeinschaft, die wir füreinander sein wollen. In ihr gilt: Du musst nicht Recht haben. Aber versuche gerecht zu sein.

(1) Friedrich Schiller: An die Freude.

Photo by Anya Snyder from Pexels

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