Dein digitales Lagerfeuer
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 Lesedauer: 6 Minuten

Zu müde für Ferien

Ich fühlte mich als Versagerin, als ich – die Füsse hochgelegt und in der Hand einen Eistee – auf dem Balkon sass und (über Mittag!) einen Film auf Netflix schaute. Als Ferienversagerin.

In den Ferien muss man doch was erleben! Zu Hause auf dem Balkon sitzen, das geht wohl an einem normalen Samstag, aber nicht mehrere Tage lang in einer wertvollen Ferienwoche.

Möglichst effiziente, möglichst perfekte Ferien

Der Druck, dass Ferien eine spezielle Zeit sein müssen, ist nichts Neues. Neu erscheint mir aber, dass der Erholungseffekt wie eine Leistung beurteilt wird.

Es geht nicht mehr nur um besondere Erlebnisse, sondern darum, genau die richtigen Ferien zu machen. Die kostbaren Ferientage möglichst effizient zu gestalten.

Möglichst gut abzuschalten. Richtig Ferien zu machen.

Ursprünglich hatte ich mir in jener Woche vorgenommen, wandern und zelten zu gehen. Das hatte mir im Jahr zuvor unglaublich gut getan.

Doch schon die Planung gestaltete sich diesmal schwierig – auf Schlüsselstellen bei Passübergängen lag noch Schnee, das Wetter war gewittrig und zu möglichen Notunterkünften fand ich nur wenig Infos.

Zu hohe Erwartungen an die freien Tage

Als ich nach stundenlangem Konsultieren von Karten, Webcams und Wanderrouten loszog, merkte ich bald, dass der Wurm drinsteckte. Ich schleppte mich zwar am ersten Tag über die geplanten 17 km und 1000 Höhenmeter, sogar auf einen kleinen Gipfel, aber ohne wirkliche Freude.

Der Rucksack, den ich letztes Jahr gerne geschultert hatte, war mir zu schwer.

Die Umleitung bei einem Weg, der wegen einer Schiessübung gesperrt war, kostete Nerven.

Nach der ersten Nacht auf einem wunderbaren kleinen Campingplätzchen lief ich zwar früh und motiviert los, kürzte die Tour jedoch spontan ab. Am Mittag war ich schon wieder auf den Heimweg – nicht mal zwei Tage von geplanten fünf hatte ich durchgehalten. Vordergründig war ich auf der Flucht vor den Gewittern in den Voralpen, die für den Nachmittag prognostiziert waren – ehrlich gesagt aber fuhr ich nicht ungern nach Hause.

Ich war zu müde für meine Ferien.

Das «Ferien-FOMO» ist real

Nach Monaten, die vom Druck durch den Masterabschluss geprägt waren, hatte ich mich so ferienreif gefühlt wie noch selten. Und wunderte mich nun trotzdem, dass ich meine eigenen Erwartungen an die freien Tage nicht zu erfüllen vermochte.

Litt ich an Ferien-FOMO («Fear of Missing Out»)?

Die Anzahl Ferienwochen ist begrenzt, ebenso die finanziellen Mittel dafür, also sollten Ferien, wenn schon, möglichst gut sein. Nur ja nichts verpassen.

Letzteres ist kein neues Problem: Die Erwartungen an Ferien sind traditionell hoch, gerade, wenn man sie mit anderen Menschen verbringt, deren Erwartungen möglicherweise mit den eigenen kollidieren. Paare haben im langersehnten Urlaub oft Streit.

Der Druck jedoch, zu regenerieren, Regeneration als Leistung zu betrachten, das erscheint mir eher neu.

Zuhause angekommen, blieb ich für den Rest der Woche dort. Ich las, sass auf dem Balkon und im Café in meinem Quartier, verbrachte spontan und selektiv Zeit mit Freund:innen. Es war schön – und trotzdem war ich, wenn ich ganz ehrlich war, nicht zufrieden.

Ich hätte doch dranbleiben sollen, Durchbeissen gehört bei längeren Strecken eben dazu. Wie würde ich je eine Weitwanderung machen können, wenn ich beim ersten Gewitter schon aufgab?

Wachstum und Rekorde – auch im Urlaub

Ferien, das Prinzip stammt ursprünglich aus der Arbeiter:innen-Bewegung. Noch längst nicht überall ist es gesetzlich verankert, und im internationalen Vergleich sind unsere vier bis fünf bezahlten Wochen Urlaub sehr grosszügig.

Gleichzeitig ist das Prinzip der Ruhepause ein uraltes: Die jüdische und christliche Tradition verankert es sogar in der Schöpfungsgeschichte. Sechs Tage sollst du arbeiten, einen Tag aber ruhen. Sogar Gott ruht sich am siebten Tag aus.

Es braucht die Balance: im Alltag, nicht zwischen Alltag und Ferien.

Mikropausen helfen, Stress abzubauen und den Serotoninspiegel zu regulieren. Das wiederum ist wichtig für guten Schlaf, denn Serotonin wird in das Schlafhormon Melatonin umgewandelt. Wer tagsüber zu wenig Pause macht, findet paradoxerweise auch schlechter in den Schlaf.

Das, übertragen auf einen geplanten Urlaub, kam mir bekannt vor: Wie sollte ich mich aktiv erholen können, wenn meine Batterien komplett leer waren?

Das unbefriedigende Gefühl, doch nicht einfach eine Ferienwoche zu Hause bleiben zu können, hat aber auch mit unserer an Leistung orientierten Zeit zu tun.

Wenn Effizienz, Wachstum und Aktivität die wichtigen Wertmassstäbe sind, ist es nur logisch, dass auch der Urlaub daran gemessen wird.

Zu Beginn der aktuellen Sommerferien knackte der Flughafen Zürich beinahe einen Rekord: 214’000 Fluggäste wurden in nur zwei Tagen befördert. Zu Hause bleiben scheint nicht im Trend, wer nicht wegfliegt, verpasst was. Hier ist es wieder, das FOMO.

Dankbarkeit als Gegenmittel zum «FOMO»

Was mache ich nun mit meinem «Ferien-FOMO»?

Eine gute Freundin, mit der ich über dieses Gefühl diskutierte, scheint das Gegenmittel zum FOMO gefunden zu haben: Dankbarkeit.

Dankbarkeit, überhaupt aus verschiedenen Optionen auswählen zu können. Keine Selbstverständlichkeit. Aber auch Dankbarkeit für den Moment. Für das, was an Ferien auf dem Balkon schön ist.

Ich verzichte an dieser Stelle darauf, die wissenschaftlich erwiesenen positiven Effekte einer Dankbarkeits-Praxis aufzulisten. Denn genau darum soll es nicht gehen, dass wiederum etwas geleistet, möglichst effizient gelebt wird.

Sondern darum, wie man mehr Zufriedenheit im Moment schafft. Mit oder ohne abenteuerliche Urlaube.

Ist es wirklich so einfach?

Es hört sich sehr einfach an. Ich weiss noch nicht, ob das bloss eine Verlegenheitslösung ist, oder ob bewusste Dankbarkeit mein «Ferien-FOMO» und den internalisierten Leistungsdruck tatsächlich lindern kann.

Draussen in der Natur, während einer Wanderung, fällt mir das nicht schwer. Aber was, wenn ich nicht auf einem Berg bin, sondern zu Hause? Wenn ich mich am Feierabend nicht mit Dutzenden anderen einen Fluss hinunter treiben lasse, sondern der Hitze mit einer kalten Dusche begegne? Wenn ich mich nicht aufraffen kann, um an meinen freien Tagen eine Outdoor-Erfahrung zu geniessen?

Wie die Mikropausen im Alltag sind Dankbarkeits-Momente wohl etwas, was geübt werden muss. Ich nehm’s mir vor – der Sommer ist noch lang.

 

Podcast: «Sternstunde Philosophie: Wie kommen wir zur Ruhe?» mit Nina Kunz und Marcel Steiner

EKS-Podcast «Difference: Ferien und was wir uns davon erhoffen» mit Stefanie Fischer-Lüthi, Stephan Jütte und Frank Mathwig

Podcast «Stammtisch»: Was ist unsere Lebenszeit wert? 

Foto von Annie Spratt auf Unsplash

5 Gedanken zu „Zu müde für Ferien“

  1. So wie in allen anderen Lebensbereichen werden auch die Ansprüche an die Ferienzeit immer höher. Auch Urlaub bzw. Urlaubsort kann zum Statussymbol werden. Und dann kann man / frau den Stress haben, den man / frau eigentlich loswerden will. Glückwunsch zum Master.
    Wie es in der Schweiz aussieht weiß ich nicht, aber in Deutschland gibt es viele Familien, die sich nicht mal eine Urlaubswoche leisten können.

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  2. Danke für den Text.. ich finde es schön, wenn das Leben einmal nicht verplant ist. Gleichzeitig kommt dieses Gefühl – ich sollte jetzt doch etwas machen mit meiner freien Zeit… nicht einfach aber ich glaube es ist wichtig die Stille und das Nichtstun auszuhalten.

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  3. Wir “schafften” es grad so knapp vor Ferienbeginn einen Zeltplatz zu buchen, hatten die letzten Wochen und Monate Dauerstress, viel Arbeit, Wohnungssuche (die weiter anhält), gesundheitliche Probleme…und null Energie um sich um die Ferien zu kümmern. Dann die Anfrage der Eltern, den Vater zu “pflegen”, während die Mutter zur OP musste. Ja, sicher…Viele Gspänli der Kinder fliegen irgendwo hin, mein Sohn muss mitkommen wo ich hingehe. Trotzdem versuche ich ihm ein paar schöne Stunden zu bescheren. Wir beten zusammen, danken Gott für alles Gute das wir JEDEN TAG erleben, erhalten Kraft um schwierige Situationen durchzustehen und freuen uns an den Beziehungen und an der Liebe die wir geben können und erhalten.

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