Am Ende flossen Tränen. Auf der letzten Seite brach die Stimme von Tamara Stajner, die als letzte der diesjährigen Wettbewerbsstaffel las: an der Stelle, die von einem seltenen Moment erzählt, in dem die Mutter glücklich war. Es waren ansteckende Tränen.
Ich verfolge seit meiner Klagenfurter Schulzeit die Bachmann-Lesungen. Sie heissen inzwischen Tage der Deutschsprachigen Literatur. Klagenfurt am Wörthersee im Süden Österreichs, an der Grenze zu Slowenien und Italien, ist die Geburtsstadt der Schriftstellerin Ingeborg Bachmann.
Zu ihren Ehren wird alljährlich im Sommer der Lesewettbewerb veranstaltet.
Inzwischen kann man auch Online dabei sein, dank Live-Stream. Eine Jury mit Vertreter:innen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz urteilt in Klagenfurt öffentlich über Texte, die Autorinnen und Autoren vortragen.
Das war schon immer ein wenig grob. Schriftsteller:innen sitzen wie auf einer Schulbank und werden benotet.
Zugleich aber bietet die Teilnahme Schreibenden die Chance, sich der Fachwelt und einem grösseren Publikum zu präsentieren.
Kriegsfolgengeschichte
Seit gestern steht der Gewinner des Bachmannpreises 2024 fest: Es ist hochverdient der 1981 in Sarajevo geborene Autor Tijan Sila. Sein Text «Der Tag, an dem meine Mutter verrückt wurde» handelt davon, wie sich der Bosnienkrieg in eine Familie einschreibt. Traurigkeit und sarkastische Ironie paaren sich in der novellenhaft gebauten Erzählung, in der starke Bilder eine metaphorische Lesart eröffnen.
Die Mutter hat während des Krieges ihre Doktorarbeit in einem Unigebäude verteidigt, als darin eine Bombe detonierte.
«Damals hatte sich meine Mutter empört, ihr Büro habe nach diesem Vorfall ausgesehen wie eine Mikrowelle, in der eine Schüssel Moussaka explodiert war.»
Später, in Deutschland, ist ihr in Ex-Jugoslawien erworbener Doktortitel nichts mehr wert. Die Mutter ist in den Augen des Sohnes immer stark gewesen, mutig. Dann aber bricht plötzlich die Krankheit in ihr Leben ein. Der Sohn begreift, dass Wahnsinn von der Mutter Besitz ergreift, sie ihm und sich selbst entgleitet.
«Hatte es denn keine Vorzeichen gegeben, fragte man mich später, und ich konnte bloß antworten: Sie war manchmal sehr müde und manchmal lähmte sie der Kummer.»
«Wir nabeln uns durch die Zeit»
Tamara Stajner wurden mit einem Nebenpreis ausgezeichnet. In dem Text «Luft nach unten» der slowenischen Autorin und Musikerin, die in Wien lebt, begegnet ebenfalls eine tragische Mutterfigur. Sie hat Gewalt erfahren und gibt Gewalt weiter.
Die Mutter isst sich schliesslich zu Tode. Sie lässt sich auf ein speckiges Sofa plumpsen und «kaut» ihre Familie manchmal perplex an. «Weil du nicht glücklich warst, sollte es auch keiner von uns werden», heisst es in dem Text, in dem sich Hass und Liebe unentwirrbar mischen.
«Dein Frust ist zur Fäulnis geworden. Selbstmord durch Kauen. Das große Fressen. Es war Gewalt. Gift.»
Ein Bild aus dem Text für Schicksalsverkettung der weiblichen Linie finde ich besonders einprägsam:
«Wir nabeln uns durch die Zeit. Ein Stammbaum befleckter Geburten. Der Staffellauf von Müttern zu Töchtern.»
Schreiben als Aufarbeitung
Noch in weiteren Texten der diesjährigen Wettbewerbsausgabe – gelesen wurde von 26. bis 28. Juni – blicken erwachsene Kinder mit ambivalenten Gefühlen auf ihre alternden Eltern. Mütter und Väter entwickeln Schrullen und nehmen im Alter in der Perspektive der Kinder tragische Züge an.
Man kennt tragische Elternporträts von Jonathan Franzen («Corrections») oder Doris Lessing («Das Leben meiner Mutter»). Bei den in Klagenfurt gelesenen Texten resultieren gestörte Beziehungen und Gefühlsblockaden in Familien vielfach aus Kriegstrauma.
Schreiben dient hier der emotionalen Aufarbeitung mittels Rekonstruktion von Familienerinnerung und dem Verknüpfen loser Fäden. Die Literaturwissenschaftlerin Marianne Hirsch führte hierfür den Begriff «Postmemory Writing» ein. Es geht um eine transgenerationelle Perspektive und auch um die Auseinandersetzung mit Erinnerungslücken und traumatischem Schweigen.
Keine heil(ig)e Familie
Jurczok, ein Autor und Poetry-Slammer aus Zürich, erzählt aus der Kinderperspektive von einer durch Kriegserlebnisse belasteten Vaterfigur («Das Katangakreuz»). Der deutsch-jüdische Autor Henrik Szanto («Eine Treppe aus Papier») blickt auf die Gespenster des Holocaust und die österreichisch-polnische Autorin Kaska Bryla («Der Kakerlakenschwarm») schreibt darüber, wie sich Gulag-Erfahrungen bei Nachkommen Internierter als atmosphärische Schatten und chronische Traurigkeit durchpausen.
Um eine existenzielle Grenz- und Schwellensituation geht es in dem Text «Schwestern» der Österreicherin Ulrike Haidacher. Drei Generationen von Pflegerinnen sind in einem Krankenzimmer vereint: Grossmutter, Mutter und Tochter. Alle drei sind Care-Arbeiterinnen. Die Grossmutter liegt im Sterben.
Die Frauen möchten einander nahe sein, aber unsichtbare Mauern trennen Mütter und Töchter.
Überempfindlichkeiten funken dazwischen, Idiosynkrasien, die aus alten Kränkungen resultieren. Dazwischen Momente der Zärtlichkeit und Rührung.
Neuer Surrealismus
Gemeinsam ist einer Reihe von Wettbewerbsbeiträgen das Herantasten an Schwellen, liminale Zonen, mit unterschiedlichen sprachlichen Mitteln. Dies kann auch die Form einer poetischen Anrufung oder eines Gebets annehmen, eines «Zuwendungsgebets» etwa bei Miedya Mahmod. Diese schreibt von der Schwierigkeit, sprachlich anzukommen und sich in nicht vollends übersetzbaren Sprachgeflechten zurechtzufinden. Stellenweise löst sich bei ihr Sprache auf («Es schlechter ausdrücken wollen. Oder: Ba, Da.»).
Bei der diesjährigen Ausgabe des Wettbewerbs fiel ausserdem auf, dass in der Literatur offenbar ein neuer Surrealismus Raum greift: Schwellen sprechen, Bücher atmen leise, ein Essiggurkerl löst eine mediale Gurkendebatte aus und Angst cremt sich mit Sonnencreme ein.
Die Realität scheint verrückt zu sein und das Verrückte offenbar ein Mittel, um sich ihr zu nähern.
Die Angst entspannt sich
«Ist Realität selbst da, wo sie nicht hingehört?», ist der Wettbewerbstext des Schweizer Autors Semi Eschmamp überschrieben. Bei Eschmamp macht die Angst Ferien – und wundert sich über sich selbst:
«Hat sie nicht wichtigere Aufgaben zu erledigen? Ist das nicht einer der Orte, wo keiner der Angst begegnen will? Nur soviel: die Angst stellte sich dieselben Fragen. Sie war zum ersten Mal im Urlaub am Meer und sollte einfach mal entspannen.»
Schliesslich fasst die Angst überraschend Mut. Sie wagt sich ins Nass. Dort erlebt sie eine Art Floating. Sie kehrt ans Ufer zurück, trocknet sich ab und hört einen Podcast an mit dem Titel: «Was ist Ihnen wirklich wichtig?»
Wenn Leute die Apokalypse für angebrochen wähnen, an absurde Dinge wie Chemtrails glauben und eine Figur wie Donald Trump vielleicht bald wieder US-Präsident wird, ist der Gedanke einer Angst, die sich am Strand entspannen möchte, vielleicht nicht einmal weit hergeholt.
«Ich suche mein Kreuz»
Eine der wenigen Stellen, in der explizit mit religiöser Metaphorik gearbeitet wird, findet sich bei der Schweizerin Sarah Elena Müller. Sie hat mit «Wen ich hier seinetwegen vor mir selbst rette» den diesjährigen Lesereigen eröffent. Auch hier ein existenzielles Thema und eine Schwelle. Die Schwelle spricht, murrt und knurrt. Die Figur in dem Text identifiziert sich in ihrer seelischen Gespaltenheit und ihrer angedeuteten Drogenabhängigkeit mit dem kreuztragenden, ohnmächtig erscheinenden Jesus:
«Ich bin der leibhaftige, ohnmächtige Jesus und suche mein Kreuz. Und wenn ich es dann habe, trage ich es über die Schwelle, und jenseits der Schwelle wartet ihr doch alle, oder?»
Was Literatur ist und vermag, erklärte Sophie Stein («Die Schakalin») im ihrer Lesung vorangestellten Vorstellungsvideo: eine Möglichkeit, die Hintertür zu finden, ein Open World Game, Exzess, Wagnis, Shapeshifter, Mustererkennung, Transition, Parafiction, entlarvende Maskierung, Entflechtung von Imaginärem und Realem.
1 Gedanke zu „Was macht die Angst am Strand?“
Danke für diese wunderbare Zusammenfassung!