Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 3 Minuten

Zauberwald (8) Tiefenentspannung

«Wenn ich aufwache und es tut mir nichts mehr weh, weiss ich, dass ich tot bin», hat der Systemtheoretiker Niklas Luhmann bei einem Vortrag gesagt, den ich als Studentin besucht habe. Auch mir tat auf einmal nichts mehr weh, ich war aber noch am Leben. War das etwa Tiefenentspannung? Die chronische Anspannung im Rücken ist einer Art Luftpolster gewichen. Beim «Rückenfitprogramm» mit einer mütterlichen Gymnastiktrainerin entladen sich regenbogenbunte Schauerpakete.

Die tiefe Gelöstheit hält inzwischen mehrere Tage an und ich möchte mich bei der morgendlichen Psychorunde mit anderen über meine Erfahrung austauschen. Nicht zuletzt, um etwas Abwechslung zum vorherrschenden Tonfall der Melancholie und Aussichtslosigkeit anzubieten. Aber wie meinen Zustand in Worte fassen?

Ich fühlte mich in einer ungeahnten Tiefe befreit, wo körperliches und seelisches Befinden nicht zu trennen seien, erkläre ich. Die Depressiven der Gruppe blicken müde.

Noch am selben Tag meldet sich doch wieder Verspannung zurück. Ich lege ein Wärmepflaster auf, befinde mich aber weiterhin in einem euphorischen Zustand. Bis sich unverkennbare Migränesymptome einstellen. Jetzt fürchte ich, dass die Tiefenentspannung wohl nur eine Illusion war. Nach ein paar Stunden sind die Schmerzen aber wie weggewischt, völlig untypisch, die seelische Gelöstheit ist jedoch noch da.

Man kann also gleichzeitig muskelver- und tiefenentspannt sein? Die Phänomene scheinen tatsächlich auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt zu sein.

«Stellen sie sich vor, sie befinden sich an einem stillen See …» Das bekannte Bild aus Meditationsanleitungen entspricht ziemlich genau meiner inneren Verfassung. Ein Bild innerer Klarheit hat sich eingestellt. Ich habe den Eindruck, als wären trübe Seelenpartikel zu Boden gesunken und nur wenige Schatten übriggeblieben. Ich erlebe mein Inneres transparent. Ich habe den Eindruck, nichts mehr müssen zu müssen und bin berauscht von der neuen Leichtigkeit.

Am Tag vor meiner Rückkehr in die Stadt spaziere ich gemeinsam mit anderen durch den Wolfswald. Holzfällerwege verlaufen schnurgerade. Hohe Stapel frisch geschlagener Kiefern wurden von Waldarbeitern an verschiedenen Stellen aufgehäuft. Riesenhaft wirkende Raben ziehen kehlig-dunkel krähend Kreise. Ein paar Birken zwischen strammstehenden, orangerindigen Kiefern, ein kaleidoskopisches Stammlabyrinth, unten dunkel, darüber warmorange und oben kiefergrün, harzduftend.

Am Wegrand stehen baumwollwattige weisse Stauden. Im sumpfigen Gelände liegt eine mondhelle Birke flach da. Ein schlammiges schwarzes Suhlloch der Wildschweine mit frischen Spuren taucht auf, Trampelpfade hin und her. Dahinter beginnt Mischwald, ein Eichenhain. Der Boden ist bedeckt mit braunem Eichenlaub und Eicheln. Viele Tierspuren, von Wildscheinen aufgewühlter Weg, Spuren ganzer Trampelherden, schliesslich ein Wanderweg zum See.

Der Waldsee glänzt in der Frühdämmerung, Januarsonnenuntergang. Schilfgras wird von leichtem Wind bewegt, kleine Wellen umspülen nassdunkle Uferbäume. Ein Boot liegt ruderlos am Seerand, der Rumpf vollgelaufen, wassersatt.

Es beginnt dunkel zu werden. Beim Rückweg mit meinen beiden Begleitern beschleicht mich ein seliges Gefühl, wie zuletzt beim Spielen gemeinsam mit anderen Kindern in der Dämmerung.

Der Kuraufenthalt war Mitte der 2010er-Jahre. Die Namen der Klinikinsassen sind geändert.

Illustration von David Nydegger für RefLab.

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9 Kommentare zu „Zauberwald (8) Tiefenentspannung“

  1. Klasse geschrieben, habe mich sehr wiedergefunden in den einzelnen Persönlichkeitsanteilen der einfühlsam und äußerst differenziert beschriebenen Patienten! Bitte mehr davon!
    Liebe Grüße und weiterhin viel Erfolg beim Schreiben! H.Fi-Na aus Hamburg 🙏💐💕🤗

    1. Danke für den schönen Kommentar! Ich freue mich darüber sehr. Und viele Grüsse nach Hamburg, war öfters dort als Kunstkritikerin, um über Museumsausstellungen zu berichten und mag die Stadt sehr.

  2. Wunderbare Serie von Artikeln. Ich habe den Verdacht, in derselben Klinik gewesen zu sein und auch etwa zur selben Zeit. Mit ganz anderen Eindrücken. Vielen Dank!

  3. Diese wunderbare, einfühlsame, aufrichtige Erzählung hat mich tief berührt. Sie erinnert mich an das Buch „Veronika beschließt zu sterben“ von Paulo Coelho, das bereits eine ähnliche verbindende Faszination auf mich ausgeübt hat. Vielen herzlichen Dank für das Teilen dieser behutsamen und reflektieren Einblicke – ich wünschte, ein Großteil der Menschheit käme in diesen „Genuss“.

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