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 Lesedauer: 4 Minuten

Polarisierung. Diskriminierung. Gesunder Menschenverstand.

Ich habe in zwei Wochen trans*Menschen, Fahnenträger des gesunden Menschenverstands, Schwarze und Rentner beleidigt. Mein erster, selbstgerechter Gedanke war: Na, wenn du alle beleidigst, von links bis rechts und alt bis jung, liegst du vielleicht gar nicht falsch. Aber genau das ist eine saublöde Idee! Und ich bin nicht der einzige, der sie hat.

Theater

Wenn Differenzfeministinnen aus der Emma mit Gendertheoretikerinnen streiten, Schwarze in Video-Interviews sagen, dass sie „Mohrenköpfe“ gar nicht schlimm finden, öffentliche Gebäude zum Entsetzen der bürgerlichen NZZ-Leser*innen mit gendergerechten Toiletten ausgestattet werden, Linke, die für die AHV kämpfen von Rentner*innen kritisiert werden, die gegen Elternzeit sind und Feminist*innen mit Aktivist*innen für Trans*Rechte aneinander geraten, stärkt das eine sich als „Gesellschaftliche Mitte“ begreifende und formierende Partei. Vor dieser „Mehrheitsgesellschaft“ wirkt das alles wie ein Theater. Längst ist sie es gewohnt, über alles mit dem sicheren Urteil des „gesunden Menschenverstands“ zu richten.

Ich gehöre zu denen

Im Resultat dienen diese Debatten und Diskussionen immer denen, die kein Problem haben, wenn alles bleibt, wie es ist. Ich gehöre zu denen. Wir sagen dann: „Schon krass, diese Empörungskultur.“ Das können wir leicht sagen. Fast immer. Beim Frauenstreik fallen uns Bauarbeiter ein, die bei brühender Hitze Strassen teeren: „Wichtiger als Geschlechterfragen wären soziale Fragen…“ Bei den Toiletten sagen wir: „Wie viele Transen (!) nutzen dort überhaupt eine Toilette?! Macht mal lieber grössere Frauen-WCs!“ Bei der Gewalt gegenüber Schwarzen sagen wir: „Schon schlimm, was in den USA gerade passiert.“ Wir sind diejenigen, die alles immer einordnen dürfen. Und weil wir immer irgendetwas finden, das noch wichtiger, noch ungerechter oder dringender ist, müssen wir nichts wirklich ändern.

Fit-Code

Dieses „Wir“ ist aber nicht einfach eine feste soziale Grösse. Es variiert je nach Thema. Es gibt aber ein paar Typen, die praktisch immer dazu gehören, z.B:

  • Männer ohne Migrationshintergrund, tertiärer Ausbildung, heterosexuell, in Beziehung, Einkommen über 100’000.-
  • Frauen ohne Migrationshintergrund, tertiärer Ausbildung, heterosexuell, in Beziehung, Einkommen über 100’000.-

Und es gibt solche, die fast nie dazu gehören:

  • Menschen mit Behinderungen
  • Geflüchtete Menschen
  • Menschen mit nicht binärer Geschlechtsidentität
  • Alleinerziehende Eltern
  • Junge Männer mit Migrationshintergrund
  • Armutsbetroffene
  • Menschen ohne festen Wohnsitz

Und es gibt solche, die meistens dazu gehören, wenn sie über einen guten Bildungsabschluss und ein hohes Einkommen verfügen und gesund sind:

  • Homosexuelle
  • Fettleibige
  • Feminist*innen
  • Menschen mit körperlichen Behinderungen

Du merkst es gar nicht

Wenn du wie ich zu denen gehörst, die fast immer „wir“ sagen können und deren „wir“ immer die Privilegierten meint, findest du das irgendwann selbstverständlich. Richtig privilegiert sein, heisst, dass du es nicht einmal mehr merkst. Ein Konflikt zwischen Differenzfeministinnen und Aktivist*innen für trans*Rechte kannst du dann leicht als Gezänk abtun von Menschen, die – nicht wie du! – keine anderen Probleme haben. Wir können leicht sagen, dass wir keine „Sprachpolizei“ brauchen, sondern Sprache immer verletzen könne und man sich halt im Alltag wehren müsse. Wir können das. Darum verletzt uns auch kaum jemand. Und wenn, zucken wir mit den Schultern und belächeln den hysterischen Ausbruch.

„Wir“ sind nicht bedroht. Weder durch Migration, Familienformen noch durch irgendwelche Rechte, die andere erhalten. Genau deshalb könnten wir für diese und mit ihnen so viel mehr sein als Zuschauer und Jurorinnen. Wir könnten das berechtigte Anliegen von trans*Menschen, selbst über ihre Geschlechtsidentität entscheiden zu können, aufnehmen. Und wir könnten J.K. Rowling zuhören, die sich um die Integrität von Frauen angesichts häuslicher und sexualisierter Gewalt sorgt. Wir müssten beides nicht gegeneinander ausspielen. Weil es kein Nullsummenspiel ist. Empathie und Verantwortungsfähigkeit können wachsen. Immer weiter.

Gegen die Polarisierung

Man bewahrt die Gesellschaft nicht vor Polarisierungen, indem man die polarisierenden Gruppen zurechtweist. Sie sind unsere Motoren, die unsere Gesellschaft voranbringen. Vor Polarisierung müssen uns nicht Opfer, Betroffene oder Aktivist*innen schützen, sondern wir uns selbst. Vor uns selbst. Trump ist nicht an die Macht gekommen, weil „die Linke“ zu weit gegangen ist, sondern weil ihre wichtigen Sozialanliegen von den etablierten Verantwortungsträger*innen übergangen worden sind. Die Pole spalten keine Gesellschaft. Nur eine träge Mehrheit kann das.

Wer also „gesunden Menschenverstand“ haben und ungebrochen „wir“ sagen möchte, müsste alles daran setzen, die Themen derjenigen aufzunehmen und anzunehmen, die in diesem „wir“ noch keinen Platz haben.

 

 

5 Kommentare zu „Polarisierung. Diskriminierung. Gesunder Menschenverstand.“

  1. Sehr gut geschrieben. In einer WG lebend, in der die meisten meistens nicht zum WIR – außerhalb unserer Gemeinschaft – gehören, habe ich immer wieder zustimmend genickt.

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