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 Lesedauer: 8 Minuten

Wie weiblich bin ich?

Irgendwie war mir immer klar, dass ich weiblich bin. Unscharfe Gesprächsfetzen mit meinen Eltern, in denen ich als Kind fragte, welches Geschlecht ich hatte, wecken positive Erinnerungen: «Mädchen» löste warme, stimmige Assoziationen aus, ein tiefes, körperliches Ja. Später verwandelte sich das «Mädchen» zur «Frau». Das fühlte sich ebenso stimmig an. Ich mochte «Frau» sogar noch ein bisschen mehr als «Mädchen». Es klang so würdevoll. Ich wollte unbedingt als «Frau» identifiziert werden. Doch so sehr ich die Geschlechtszuweisung mochte, so wenig schien ich zum Bild zu passen, das ich innerlich von «Mädchen»-Sein oder «Frau»-Sein hatte.

Zuckrige Püppchen

Ich fühlte mich insofern als Mädchen, als ich es mochte, Blumen zu pflücken, drei Röcke übereinander anzuziehen, in die Absatzschuhe meiner Grossmutter zu schlüpfen, mich mit meinen Freundinnen zu verkleiden oder mit Barbies zu spielen. Aber das war dann auch schon alles, was als typisch für «Mädchen» galt. Grundsätzlich war ich zu energiegeladen für ein Mädchen. Meine Lieblingsdisneyfigur war Mulan, die an den Rollenerwartungen, ein wohlerzogenes, sanftes, geschminktes Mädchen zu sein und zu heiraten, verzweifelte. Als es darum ging, dass die Männer des Dorfs in die Armee eingezogen wurden, riss sie von Zuhause aus und verkleidete sich als Junge, um anstelle ihres gebrechlichen Vaters China zu verteidigen. Ich wollte auch eine starke Heldin sein – aber trotzdem weiblich bleiben dürfen.

Sexy Kätzchen

In der Pubertät dehnte sich dieser Spagat weiter aus. Ich wollte eine «echte» Frau sein. Gemäss dem, was ich in Zeitschriften mitbekam, hiess das, den sexy Körper einer wohlproportionierten Frau mit Brüsten, Hüften und einer schmalen Taille zu besitzen und ihn mit den hübschen Kleidchen der damals beliebten Modeketten unwiderstehlich für Jungs zu machen. Nur machte mein Körper nicht mit.

Während sich die Körper meiner Freundinnen wie magisch verwandelten, blieb meiner schmal, flach und zog sich lediglich in die Länge. In meinen Augen wurden die Mädchen um mich herum zu schönen, eindeutig weiblichen Schmetterlingen, während ich eine unförmige, geschlechtslose Raupe blieb.

Ich brauchte keine BHs und eine Taille hatte ich schon gar nicht. Dafür einen breiten Oberkörper vom Schwimmen. Jahre später erfuhr ich, dass einige mich um meinen mädchenhaft bleibenden Körper beneideten und es fürchterlich fanden, Brüste und Hüften zu bekommen, weil sie sich dann zu gross und erwachsen fühlten. Krass, oder? Die hyperfemininisierte Mode der 1950er-Jahre, für die ich mich – vielleicht auch aus Unzulänglichkeitsgefühlen – interessierte, füllte ich an manchen Stellen nie aus, an anderen Stellen sprengte ich sie.

Ich kam mir wechselweise vor wie eine Mischung aus Alice im Wunderland, die unkontrollierbar wächst und schrumpft und Anne Hathaway vor ihrer Keratin- und Kontaktlinsenbehandlung in «Plötzlich Prinzessin». Ausser dass bei mir nie eine genovische Verwandtschaft auftauchte und dass das körperliche Ergebnis meines pubertären Tunnelfalls nicht mit der Form von Weiblichkeit endetete, auf die ich gehofft hatte. Meine Weiblichkeit blieb eine einzige Baustelle. Jedenfalls in meinem Kopf.

Fromme Prinzesschen

Da ich körperlich so wenig zum Idealbild einer Frau passte (wo auch immer ich diese Bilder aufgegabelt hatte), wollte ich wenigstens charakterlich vollkommen weiblich sein. Nach dem Buch «Weisst du nicht, wie schön du bist?» von Staci Eldridge, einem Klassiker in der christlichen Frauenliteratur, war eine Frau «einladend, bezaubernd und fesselnd». In der Bibelschule, die ich nach dem Schulabschluss besuchte, wurde dieser Wunsch sehr begrüsst und in die Formel «eine Frau nach dem Herzen Gottes» gegossen.

Eine solche Frau, lehrte man mich dort, sei sanft und ruhig und füge sich in die Anweisungen der männlichen Autoritäten, unter die Gott sie gestellt hatte. Sie liebe Kinder und suche sich einen sozialen Beruf, etwa als Lehrerin. Sie arbeite, bis sie heirate, würde dann Hausfrau und Mutter und engagiere sich gemeinschaftlich.

Eine Frau kümmere sich in ihrer Essenz um Menschen, Beziehungen und Gemeinschaft. Der Mann bilde das Haus, das die Frau mit Leben ausfülle.

Ich wollte nichts mehr als eine solche Frau zu sein. Ich wollte endlich Klarheit über meine eigene Geschlechtsidentität haben, war diese inneren Widerstände leid. Dass ich gar nicht so viel Widerstand hatte, wie ich meinte, weil mein Körper sämtliche Erwartungen einer schlankheitsgetriebenen Diätkultur erfüllte und trotz allem Selbsthass eindeutig als weiblich wahrgenommen wurde, entging mir, weil ich so beschäftigt war damit, weiblich genug zu sein. Ich sah nur, was nicht gut genug war: Ich mochte Babies und Kinder nur bedingt, manchmal fand ich sie sogar ziemlich nervig. Und auch im Arbeitsalltag der Bibelschule zeigte sich blitzschnell, dass es mir so gar nicht gelang, mich still, unsichtbar und fügsam zu verhalten. Wie konnte es sein, dass ich mich als weiblich fühlte, aber so null zu dem passte, was von einer Frau verlangt wurde?

Gesellschaftliche Idealvorstellungen

Wenn wir kurz herauszoomen, haderte ich vor allem mit der Hypothek von Weiblichkeit, mit der ich gross geworden war. Sie ist bürgerlich und traditionell – kein Wunder, denn das ist das Biotop, in dem ich aufgewachsen bin. Bürgerlich und traditionell sehe ich nicht als abwertend, nur eben als ein Biotop von vielen.

In diesem Biotop trugen Mädchen Rosa, Pink, Violett oder Lila, sahen aus wie Barbies, benahmen sich wie gesittete kleine Prinzessinnen und waren rundum zuckersüsse, niemals aneckende Wesen, die kleine Kätzchen und Einhörner liebten. Sie machten nie Flecken, erhoben ihre Stimme nur sanft säuselnd und bestenfalls zum Gebet. Und für alle, die sich wundern:

Nein, natürlich wurde mir das nie in dieser Deutlichkeit gesagt. All das geschah subtil durch Bücher, Kleidung, Spielsachen oder Bemerkungen von Menschen in meinem Umfeld, die sich wie ein Mosaik zu einem Bild von «Weiblichkeit» zusammenfügten.

Logisch, dass ich mit «Frau» ein Wesen assoziierte, das eine erwachsene Variante dieser Eigenschaften darstellte: Ein hübsch geschminktes, in geblümten Kleidern steckendes Puppenwesen, das immer leise, ruhig und lächelnd durchs Leben ging und niemals Streit oder Provokationen hervorrief und sich perfekt wie ein Puzzleteil in die Gesellschaft einfügte.

Wissenschaftlich gesehen kann man das als Idealtyp sehen. Der Soziologe Max Weber prägte den Begriff «Idealtypus» und meinte damit eine Idealvorstellung von etwas, die aber niemals in dieser Eindeutigkeit oder Reinheit anzutreffen ist. Und genauso erlebe ich das: Ich kenne keine einzige Frau, die einen solchen Puppencharakter hat.

Selbst die sanftesten, ruhigsten Frauen, die gerne geblümte Kleidung tragen, haben Meinungen und Gedanken.

Und in der Garderobe des Unisports sah ich in all den Jahren, in denen ich alleine oder mit Freundinnen dort ein und aus ging keine einzige Frau, die einen Idealkörper hatte, wie er in der Mainstream-Werbung propagiert wurde. Jeder einzelne Frauenkörper war auf wunderschöne Art und Weise vom Leben gezeichnet. Mit Narben, Dellen, Cellulite, Dehnungsstreifen, Poren, Akne, Pigmentflecken, Fett, Falten und Haaren an allen möglichen Körperstellen. Manche hatten kantige Gesichter, manche herzförmige. Manche hatten sanfte, manche kernige Stimmen. Manche trugen Glatze, manche hatten Korkenzieherlocken, manche seidig-glatte Mähnen. Aber alle waren sie Frauen und mit ihren Eigenheiten wunderschön.

Alles zusammen und nichts davon

Diese normabweichende, körperliche Vielfalt bewusst wahrzunehmen und wertzuschätzen, ermöglichte mir erst ein feministischer Zugang zu Geschlecht und Körper. Klar, Dating half auch, die konkrete Erfahrung, dass Menschen unterschiedlichste Körper attraktiv finden. Erst die Auseinandersetzung damit, dass es individuumsübergreifende, gesellschaftliche Bilder davon gab und gibt, wie wir uns Geschlecht, «Mann» und «Frau» vorstellen (und oft ausschliessend als entweder rein Mann oder rein Frau ausgelegt), half mir zu begreifen, dass die Schublade für «Frau» weit genug war, dass ich hineinpasste.

Wer jetzt denkt, dass ich damit meine wahre Weiblichkeit gefunden habe: Fehlanzeige. Selbst mit diesem Ansatz ist Weiblichkeit eine Baustelle geblieben. Aber genau das bevorzuge ich mittlerweile. Eine Baustelle bedeutet, dass ich mich entwickeln kann, wie ich will.

Ich kann mich als Bademeisterin mit vermeintlich «männlicher» Art durchsetzen, kann mit Schläuchen, Laubbläser und Hochdruckreiniger hantieren, aber genauso «weiblich» empathisch und sanft Angehörige beruhigen, wenn es zu einer Wasserrettung kommt. Meine Kollegen können das übrigens auch. Ich kann mich «weiblich» chic machen mit Wickelkleid, viel Schmuck, Lidstrich und langen, lackierten Fingernägeln und ebenso légère mit «männlich» assoziierter Kleidung herumlaufen: Sei es, weil mir die Männershirts in der Badi angenehmer sind oder ich es cool finde, in Männerhemden, übergrossen Pullis oder Boxershorts herumzulaufen.

In diesem Mosaik von Geschlecht ist es völlig okay, beides zu verkörpern: Manchmal Eigenschaften, die als männlich gelten, manchmal solche, die als feminin gelten. An manchen Tagen will ich einfach nur Mensch sein und bin es leid, dass Eigenschaften überhaupt geschlechtlich konnotiert sind.

Wir Menschen dürfen doch spielen mit dem, was als «männlich» oder «weiblich» gilt.

Und trotzdem können, ja dürfen wir uns einem – oder keinem – Geschlecht zuordnen, das für uns stimmt. Ich persönlich würde nie etwas daran ändern wollen, dass ich eine Frau bin. Auch keine nonbinäre oder trans Person, die ich kennengelernt habe, stellt das infrage. Ich weiss mittlerweile einfach, dass ich meine eigene Weiblichkeit verkörpern will und nicht diejenige, die von mir erwartet wird.

 

Photo by andré spilborghs on Unsplash

3 Kommentare zu „Wie weiblich bin ich?“

  1. Christoph Borries

    Finde die Gedanken auch sehr gut – ich bin Berufsschulpfarrer und mache den Podcast 7Tage1 Song – eine Folge mit diesem Thema treibt mich schon länger um und ich würde mich freuen, wenn die Autorin vielleicht Lust hätte mit zu machen. Einstieg wäre der tolle Satz von Dave Grohl „In a World full of Barbies, every Girl needs a Joan Jett“. Für die Folge könnte man dann einen Joan Jett oder einen Runaways Song oder auch einen Foto Fighters Song nehmen – ganz nach Geschmack. Ich freue mich, wenn es klappt.

  2. Einmal mehr finde ich Menschen, die anderen verkünden, Gott erwarte von ihnen dies oder das, ziemlich daneben.
    Ich hoffe stark, dass noch mehr Menschen zu ihrer persönlichen und immer wieder verspielten weiblich-männlichen Identität finden. Das Leben ist doch hoffentlich bunt, voller Weiblichkeiten, Männlichkeiten und Diversigkeiten, und immer noch dynamisch im Weiter-Entwickeln.

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