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 Lesedauer: 11 Minuten

Verschwörungstheorien [Teil 1] – Eine Hinführung

Kollektive Hyperventilationen

Es braut sich etwas zusammen.

Die sozialen Medien sind in Zeiten der Quarantäne und des körperlichen Distanzhaltens zum virtuellen Stammtisch geworden, und nüchtern ist hier kaum noch eine(r).

Der angestaute Frust und das geballte Misstrauen zahlreicher Menschen den politischen und wirtschaftlichen »Eliten« gegenüber verschafft sich in diesen Wochen und Monaten eruptiv Luft.

Auf Facebook, Twitter und alternativen Newsportalen überschlagen sich die neusten Enthüllungen zu den wahren Triebfedern hinter dem »Coronawahnsinn«, Theorien über die eigentlichen Profiteure dieser Krise und die geheimen Absichten Chinas, der USA, der Gates-Stiftung oder anderer suspekter Größen ziehen weite Kreise. Anti-Lockdown-Proteste in zahlreichen Städten vermögen Menschen unterschiedlichster politischer Orientierung und sozialer Hintergründe zu mobilisieren – es scheint, als wären breite Teile der Bevölkerung in einen Zustand der kollektiven Hyperventilation geraten. [1]

Fragmentierte Öffentlichkeit

Ihnen stehen kopfschüttelnde Zeitgenossen gegenüber, welche die moderne Demokratie durch hirnlose Fanatiker in Gefahr sehen und teilweise nicht weniger eifrig gegen die unverbesserliche »Aluhut-Fraktion« Stimmung machen.

Es deutet einiges darauf hin, dass uns von diesem denkwürdigen Jahr nicht nur die Coronavirus-Pandemie in Erinnerung bleiben wird, sondern auch das Fortschreiten der Fragmentierung unserer Gesellschaft und der tiefgreifende Zerbruch von Solidaritäten und Gemeinschaftssinn.

In der Zuversicht, dass noch nicht alle Brücken abgebrannt sind, und dass ein tieferes Verständnis sozialer Hintergründe und mentaler Mechanismen zur Verständigung auseinanderbrechender »Lager« beitragen kann, will sich dieser Beitrag (als erster einer Reihe von Blogeinträgen) dem Phänomen der sogenannten »Verschwörungstheorien« nähern. [2]

Goldenes Zeitalter

Wer sich in der medialen Öffentlichkeit dieser Tage umsieht (vielleicht reichen auch schon Gespräche mit Nachbarn und Verwandten…), könnte den Eindruck gewinnen, dass wir historisch im goldenen Zeitalter der Verschwörungstheorien leben. Das ist aber mitnichten der Fall. Gewiss hat das Internet bisher ungeahnte Möglichkeiten geschaffen, konspirationistische Ideen global zu verbreiten und Menschen miteinander zu vernetzen, welche vom klandestinen Wirken geheimer Mächte überzeugt sind.

In früheren Zeiten waren Theorien über Verschwörungen aber wesentlich populärer und einflussreicher als heute.

Bereits in der Antike zirkulierten in mündlicher wie schriftlicher Form zahlreiche Gerüchte zu hintergründigen Komplotten und geheimen Absprachen der Mächtigen. Sie waren nicht nur Teil der Alltagskommunikation, sondern prägten auch die politischen Kontroversen in Senatsversammlungen, öffentliche Ansprachen und Reden im römischen Gericht. [3]

Verschwörungsfreudige Aufklärung

So richtig Fahrt nahmen verschwörungstheoretische Behauptungen aber bemerkenswerterweise im Zuge der Aufklärung auf. [4] Hatten schon die durch die reformatorische Kirchenspaltung ausgelösten Religionskriege zu zahlreichen Verschwörungsanschuldigungen geführt – Katholiken und Reformierte bezichtigten sich gegenseitig, mit dem Antichristen unter einer Decke zu stecken und die Übernahme der Welt zu planen – so wurden konspirative Ideen spätestens im 17. Jahrhundert zu einem integralen Bestandteil des gesellschaftlichen und politischen Diskurses.

Wie heute diente auch der damalige Konspirationismus der Erklärung des aktuellen Zeitgeschehens und der Identifikation von Schuldigen in Krisenzeiten. Er war aber nicht nur wesentlich verbreiteter als heute, sondern v.a. in der Mitte der Gesellschaft als völlig legitime Form des Wissens anerkannt.

An heimliche Verschwörungen zu glauben und Theorien darüber zu verbreiten hatte nichts Anrüchiges oder Pseudowissenschaftliches; es war vielmehr die Art und Weise, wie sich sowohl Angehörige der Elite als auch Vertreter des gemeinen Volkes die Mechanismen hinter den Wendungen der Geschichte vorstellten.

Säkularer Aberglaube

Das klingt auf den ersten Blick überraschend. Hat nicht die Aufklärung mit dem Aberglauben früherer Zeiten aufgeräumt und ein Zeitalter der Vernunft ausgerufen, welches die unbestechliche rationale Begründung von Überzeugungen forderte?

Der bekannte Philosoph Karl Popper hat sich mit diesem Phänomen beschäftigt und den Konspirationismus als »typisches Ergebnis der Verweltlichung religiösen Aberglaubens« bezeichnet. [5]

Der Gedanke dahinter ist einfach: Das mit dem Fortschreiten der Aufklärung zunehmend erschütterte Vertrauen in das geschichtliche Planen und Vorsehen Gottes erzeugte ein Erklärungs- und Sinndefizit. Dieses wurde umgehend durch die Vorstellung gefüllt, verborgene Absichten mächtiger Männer wären für geschichtliche Weichenstellungen und unheilvolle Entwicklungen verantwortlich.

Oder, um es mit einer bekannten Funktionsbestimmung von Religion zu sagen: Die Komplexitätsreduktion und Kontingenzbewältigung, welche der religiöse (christliche) Glaube bisher leistete, wurde nun von Verschwörungstheorien übernommen.

Konspirationistische Anschauungen helfen, im Wirrwarr der Ereignisse den Durchblick zu behalten und das eigene Leben nicht dem Zufall preisgeben zu müssen.  [6]

Geplante Weltgeschichte

Wenngleich solche verschwörungstheoretischen Konstruktionen sehr begründungsbedürftig scheinen: Sie passten doch auch zur aufklärerischen Überzeugung, dass nicht Gott oder ein namenloses Schicksal, sondern der Mensch mit seinen Entscheidungen und Handlungsvollmachten die Geschicke lenkt. Alles, was sich ereignet (oder zumindest die entscheidenden, gegenwartsprägenden Vorkommnisse) geht zurück auf menschliches Schalten und Walten.

Der Verlauf der Weltgeschichte ist dann kein göttliches oder schicksalhaftes Geheimnis mehr, sondern das Ergebnis von menschlichen Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen.

Die Einsicht, dass der Verlauf der Dinge ganz wesentlich von Zufällen und unabsehbaren, unbeabsichtigten Konsequenzen menschlichen Handelns geformt wird, wäre dem aufklärerischen Weltgestaltungswillen zuwidergelaufen. Da nahm man lieber an, dass Freimaurer, Illuminaten, Jesuiten, Kapitalisten, Kommunisten oder jüdische Bankerfamilien hinter den Ereignissen stehen. [7]

Metaphysische Aufladung

Trotz der Plausibilität der Popper’schen These von der Säkularisierung des Aberglaubens ist freilich festzuhalten, dass sich Verschwörungstheorien damals wie heute sehr zwanglos mit religiösen Motiven verbinden bzw. »metaphysisch aufladen« lassen.

Die Überzeugung etwa, dass durch flächendeckende Zwangsimpfungen jedem Teilhaber der Weltbevölkerung unerkannt ein Chip eingepflanzt werden soll, durch welchen geheime Mächte die Kontrolle über die Menschheit gewinnen und eine neue Weltordnung aufrichten werden, gibt es auch in einer »getauften« Variante. Dann steht kein Geringerer als der Antichrist selbst hinter den kontrollwütigen Machenschaften der Eliten, und der ominöse Chip wird mit dem »Zeichen des Tieres« identifiziert, welches in der Offenbarung als Signum der Endzeit angekündigt wird (Offb 13,16-18).

Und natürlich bieten sich auch Vorstellungen einer freimaurerisch-okkulten oder einer jüdischen Weltverschwörung geradezu an, auf einem religiösen Hintergrund interpretiert zu werden. [8]

Hochreligiöse Anfälligkeiten

Die jüngsten Auswüchse verschwörungstheoretischen Denkens auf den Sozialen Medien anlässlich der Corona-Pandemie haben zur Genüge bestätigt:

Gerade im hochreligiösen, pietistisch-evangelikalen Milieu fällt der Konspirationismus um Bill Gates, Impfstoffe, die WHO usw. oft auf ausgesprochen fruchtbaren Boden.

Verschiedene Faktoren werden für diese verschwörungstheoretischen Affinitäten verantwortlich sein. Dazu gehört sicher die Beobachtung, dass zumal in manchen christlich-konservativen Kreisen seit vielen Jahrzehnten der Weltuntergang geprobt wird: Die Endzeit ist angebrochen, die Finsternis dieser Welt wird zunehmen und in die apokalyptischen Szenarien der Offenbarung münden (vor denen die Gläubigen freilich durch eine wundersame »Entrückung« verschont bleiben…). Damit wird eine Mentalität eingeübt, die auffallende Strukturähnlichkeiten mit einem konspirationistischen Mindset aufweist.

Auf jeden Fall aber zeigt sich bis in die Gestalten des gegenwärtigen Christentums hinein, dass sich gänzlich verschiedene Deutungen der Wirklichkeit gegenüberstehen – und dass die Herausforderungen im Zeitalter der digitalen Vernetzung und Filterblasen keineswegs abgenommen haben.

Aufbrechende Wahrheitsfrage

Und da sind wir jetzt also.

Inmitten eines Gewirrs von Stimmen, welche das ganze Feld von der naiven Wissenschaftsgläubigkeit bis zum abstrusesten Weltverschwörungsdenken, aber auch von der sorgfältigen Prüfung neuster Erkenntnisse bis zur Verzweiflung an der Komplexität der Sachlage aufspannen.

Damit stehen wir natürlich vor der ebenso uralten wie hochaktuellen Frage nach der Wahrheit: Gibt es sie überhaupt? Können wir sie wissenschaftlich ermitteln, durch Offenbarung empfangen oder im Blick hinter die Kulissen der Geschichte ergründen? Wer darf die sie für sich beanspruchen?

Und wie kann das Zusammenleben in einer pluralistischen Gesellschaft funktionieren, in der die verschiedensten und widersprüchlichsten Wahrheitsansprüche miteinander konkurrieren?

Fragliches Zusammenleben

Diese letzte Frage wird im Blick auf aktuelle Verschwörungsanschuldigungen vielleicht noch virulenter als für herkömmliche, religiöse Vorstellungen. Die lassen sich nämlich oft bereitwillig auf den Bereich privater Meinungen und individueller Frömmigkeit zurückdrängen.

Konspirationistische Ideen weisen dagegen meist einen unverhohlen revolutionären, soziopolitischen Impetus auf.

Sie lassen sich in politische Forderungen und Initiativen, in Verweigerungsaufrufe und öffentliche Verlautbarungen ummünzen. Die gegenwärtigen Demonstrationen gegen den pandemiebedingten Lockdown belegen dies eindrucksvoll (womit freilich nicht gesagt sein soll, dass alle Teilnehmer dieser Proteste Verschwörungstheoretiker sind).

Wie lässt sich hier ein gemeinsamer Boden wiederfinden?

Wir kratzen mit diesen Überlegungen erst an der Oberfläche. Die kommenden Beiträge wollen sich an diesen Stellen aber wenigstens ansatzweise weiter vortasten…

 

Quellennachweise und Anmerkungen

[1] Praktisch jede Zeitung hat sich mit dem Phänomen der Verschwörungstheorien in Zeiten der Corona-Krise befasst. Besonders über das Auffahrtswochende sind zahlreiche Artikel dazu erschienen – so dass Milosz Matuschek in einer NZZ-Kolumne augenzwinkernd festhält: »Das Thema Verschwörungstheorie prangte auf so vielen Titelseiten, dass man sich als Leser fragte: Haben die sich etwa abgesprochen? Aber das wäre wohl eine Verschwörungstheorie« (Milosz Matuschek: Liebe Journalistenkollegen, hört auf, Wahrheitspriester zu spielen, NZZ (26.05.2020)). Bemerkenswerte journalistische Beiträge sind (u.a.): Anja Burri: Juden, Freimaurer, Corona-Krise: Wieso sind Menschen anfällig für Verschwörungstheorien?, NZZ am Sonntag (16.05.2020); Peter Winkler & Stephanie Kusma: Nur Gerüchte verbreiten sich schneller als ein Virus, NZZ (22.04.2020); Katharina Bracher: Der Segen des Irrsinns: Warum wir Verschwörungstheorien für glaubhaft halten, NZZ am Sonntag (02.05.2020); Corinne Plaga: Umstrittene Doku «Plandemic»: Verschwörungstheoretiker feiern ihre neue Heldin, während Youtube und Co. gegen Desinformation vorgehen, NZZ  (14.05.2020); Simon Hurtz: Überall Verschwörungstheorien. Warum so viele Menschen Corona-Mythen verbreiten, Tagesanzeiger (11.05.2020); Sebastian Kempkens: Verschwörungstheorien. Das große Komplott, DIE ZEIT (21/2020, 14.05.2020); Christoph Gunkel (im Interview mit Michael Butter): Wissenschaftler über Verschwörungstheorien. »Bill Gates ist das ideale Feindbild«, Spiegel (25.05.2020); Norbert Bolz: Ehrenrettung. Wir Verschwörungstheoretiker, Weltwoche (20.05.2020).

[2] Michael Butter, Leiter eines europäischen Forschungsprojektes zu Verschwörungstheorien, spricht von der Gefahr westlicher Gesellschaften, zunehmend in »geteilten Häusern« zu leben: »Öffentlichkeiten, in denen Verschwörungstheorien weiterhin stigmatisiert sind, existieren neben Öffentlichkeiten, in denen sie eine Relegitimierung erfahren haben. Diese […] Fragmentierung der Gesellschaft verläuft nicht unbedingt entlang ideologischer Linien, sondern entlang völlig unterschiedlicher Annahmen darüber, wie Geschichte und Gesellschaft funktionieren. Diese Fragmentierung scheint mir das eigentliche Problem zu sein, das sich uns derzeit stellt« (Michael Butter: »Nichts ist, wie es scheint«, 233).

[3] Vgl. hierzu wiederum Michael Butter: »Nichts ist, wie es scheint«. Über Verschwörungstheorien, Suhrkamp Verlag, Berlin 2018, 142-151; sowie Thomas Grüter: Freimaurer, Illuminaten und andere Verschwörer, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main (4. Auflage) 2016, 41-114.

[4] Vgl. Michael Butter: »Nichts ist, wie es scheint«. Über Verschwörungstheorien, Suhrkamp Verlag, Berlin 2018, 142f: »Verschwörungstheorien erlebten im Zeitalter der Aufklärung eine Blütezeit, und insbesondere im Umfeld der Französischen Revolution bildeten sich […] Erklärungsmuster heraus, die sich in nichts von den Verschwörungstheorien der Gegenwart unterscheiden.« Butter hält als Ergebnis der historischen Verschwörungsforschung ausserdem fest, dass im Mittelalter – entgegen mancher Behauptungen – keine Verschwörungstheorien im engeren Sinne existierten: »Die für Verschwörungstheorien charakteristische Beweisführung findet sich gar nicht; sie kehrte – zusammen mit typischeren Verschwörungsszenarien – erst in der Frühen Neuzeit zurück, wo die Erfindung des Buchdrucks zur Herausbildung konspirationistischer Anschuldigungen moderner Prägung beitrug« (ebd., 145).

[5] Karl Popper: Falsche Propheten. Hegel, Marx, und die Folgen. Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, herausgegeben von Hubert Kiesewetter, übersetzt von Paul K. Feyerabend, Tübingen, Mohr Siebeck, 2003 (1945), 112.

[6] Vgl. hierzu v.a. die Beiträge im Aufsatzband von Christian Metzenthin (Hg.): Verschwörungstheorien. Psychologische, soziologische und theologische Perspektiven, Theologischer Verlag Zürich, Zürich 2019 – so etwa: Matthias Pöhlmann: Im Sinnlosen Sinn finden? Theologische Unterscheidungshilfen zum Verschwörungslauben, in: ebd., 77-110, hier v.a. 82: »Der Verschwörungsglaube wird für seinen Anhänger zum weltanschaulichen Erklärungsmodell. Es dient einer individualisierten Kontingenzbewältigung angesichts einer hochkomplexen Wirklichkeit. Der Verschwörungsglaube wirkt für Menschen, die sich gesellschaftlich abgehängt fühlen oder ausgeschlossen fühlen, als weltanschaulich geschlossene Option, die ihre Bestätigung aus weiteren verschwörungsgläubigen Deutungen bezieht. […] Die Wirklichkeit erscheint Verschwörungsgläubigen damit nicht von Zufällen, sondern von zuschreibbaren und klar benennbaren Personengruppen mit bösen Einfluss- und Machtsphären bestimmt. […] Vorrangig geht es beim Verschwörungsglauben um Komplexitätsreduktion und Kontingenzbewältigung.« Spannend ist überdies die Beobachtung von Pöhlmann, dass es sich beim Verschwörungsglauben im Kern um eine Form der »Theodizee ohne Gott« handelt: »Es handelt sich um eine schlecht säkularisierte Theologie bzw. um eine Säkularisierung des Theodizee-Problems: Im Mittelpunkt heutigen Verschwörungsglaubens steht nicht mehr die Frage ›Warum lässt Gott das zu?‹, sondern ›Warum widerfährt mir das?‹« (ebd., 97).

[7] Vgl. Michael Butter: »Nichts ist, wie es scheint«. Über Verschwörungstheorien, Suhrkamp Verlag, Berlin 2018, 148: »Verschwörungstheorien [waren] im 18. Jahrhundert so populär […], weil sich an ihnen in besonderer Weise zeigte, was die Vordenker der Aufklärung im Allgemeinen postulierten: ›eine Welt, in der Ursache und Wirkung mechanisch verbunden waren‹, so dass ›alle Handlungen und Ereignisse wissenschaftliche als Produkte menschlicher Intentionen gesehen werden konnten‹« (Übersetzt von Michael Butter aus einem bekannten englischsprachigen Aufsatz des Historikers Gordon Wood).

[8] So merkt auch Michael Butter im Blick auf Poppers These der Säkularisierung religiösen Aberglaubens an, dass Verschwörungstheorien ab dem 18. Jahrhundert die Religion weder ersetzt haben noch mit ihr inkompatibel seien. Vielmehr existiere noch heute »zu fast jeder populären Verschwörungstheorie eine ›religiöse‹ Version, in welcher der Antichrist oder andere ausserweltliche Akteure die Drahtzieher sind« (»Nichts ist, wie es scheint«. Über Verschwörungstheorien, Suhrkamp Verlag, Berlin 2018, 143). Vgl. auch Matthias Pöhlmann: Im Sinnlosen Sinn finden? Theologische Unterscheidungshilfen zum Verschwörungslauben, in: Christian Metzenthin (Hg.): Verschwörungstheorien. Psychologische, soziologische und theologische Perspektiven, Theologischer Verlag Zürich, Zürich 2019, 77-110, hier 104: »Der Verschwörungsglaube nimmt eine umfassende Welterklärung vor, er wird zur Weltanschauung, die entweder an die Stelle von Religion tritt bzw. deren Funktion übernimmt oder aber sich innerhalb religiöser Systeme anlagern kann.«

Alle Beiträge zu «Verschwörungstheorien»

10 Kommentare zu „Verschwörungstheorien [Teil 1] – Eine Hinführung“

  1. Sorgfältiger und guter Text, der an die Vielschichtigkeit des Themas herangeht. Es wäre wünschenswert, wenn auf eine einfachere Sprache mit möglichst wenig Fremdwörtern geachtet würde. Z.B. Komplexitätsreduktion, Kontingenzbewältigung, etc. sind für den Durchschnittsbürger wie mich keine gängigen Fremdwörter und haben Erklärungsbedarf.

    1. Danke für die Rückmeldung – ja, da muss ich Ihnen Recht geben, man hätte manche Dinge allgemeinverständlicher und zugänglicher formulieren können. Und ich habe nur die denkbar schlechteste Ausrede dafür bereit: Ich hatte zu wenig Zeit, einen einfacheren Text zu schreiben… Ich werde mich aber bemühen, in den zukünftigen Beiträgen zu dieser Blogserie darauf zu achten!

  2. Peter Schafflützel

    Vor ein paar Wochen im spärlich besetzten Zug. Über die Lautsprecher ertönt mit freundlicher Frauenstimme die Ansage, dass der öffentliche Verkehr wegen der drohenden Epidemie nun schrittweise reduziert werde. „Sind die jetzt total übergeschnappt?!“, ertönt da eine weniger freundliche Frauenstimme aus einem anderen Abteil des Waggons. Neugierig geworden gehe ich hin und frage die Frau im mittleren Alter, ob ich mich – mit dem gebührenden Zweimeterabstand – ins Abteil gegenüber setzen darf. Die Frau lässt ihrem Ärger freien Lauf. „Ich arbeite im Gesundheitswesen; und was da wegen dieses Virus für Panik geschoben wird, ist einfach nicht normal. Die älteren Leute sind völlig eingeschüchtert. Kürzlich begann eine Seniorin unter tausend Entschuldigungen zu weinen, weil sie es nicht schaffte, ein Husten zu unterdrücken. All diese Massnahmen sind völlig überdimensioniert angesichts der tatsächlichen Gefahr, die von diesem Virus ausgeht.“ „Was denken Sie, warum handeln die Regierungen so?“, wage ich zu fragen. „Ich befürchte, die aufgebauschte Krise ist eine willkommene Ausrede für den anstehenden Wirtschaftskollaps, in den uns die Mächtigen hineinmanövriert haben.“ Die Krise um das neue Coronavirus macht Menschen zu Verschwörungstheoretikern.

    Für Menschen, die die Gefahr durch das neue Coronavirus nicht grösser einschätzen als andere Gefahren in der Welt – wie z.B. die Umweltverschmutzung, Hunger, Terrorismus, Rauchen oder Tuberkulose – ist nicht verständlich, warum Massnahmen gegen diese eine Gefahr so viel massiver sind als gegen alle anderen Gefahren. Milliarden Menschen werden ihrer Freiheit beraubt, Millionen der Arbeitslosigkeit überlassen, in vielen Ländern werden lebensrettende Impfungen ausgesetzt, der Wirtschaft wird immenser Schaden zugefügt. Kommt dazu, dass viele Organisationen und Institutionen in kaum dagewesener Einheit helfen, die Angst vor dem Virus zu schüren. Die Medien präsentieren immer wieder neue Leichenberge. Die Kirchen schliessen gehorsam ihre Türen, als ob sie keine andere Hoffnung ausser einem künftigen Impfstoff hätten. Und die Gesundheitsorganisationen vermitteln die neue Orthodoxie. Wer nicht daran glaubt, gilt als Corona-Leugner. Für den Menschen, der andere Gefahren für nicht weniger schlimm hält, ist diese geballte Macht, die ihm da entgegenkommt, nicht erklärbar. Warum diese unvergleichliche, weltweite Heftigkeit, wenn es doch viele Gefahren gibt, die mindestens so gross sind?

    Vielen scheint die einfachste Erklärung für dieses konzertierte Handeln eine Verschwörung zu sein: da arbeiten mächtige Leute heimlich auf ein gemeinsames Ziel hin – den Überwachungsstaat, die Vertuschung der Verantwortung für die kommende Wirtschaftskrise, oder was gerade sonst plausibel scheint. Aus auffällig konzertiertem Verhalten – wie z.B. 1939 den Angriffen von Deutschland und Russland auf Polen – auf eine Verschwörung zu schliessen ist historisch gesehen nicht abwegig. Verschwörungen hat es immer gegeben und wird es immer geben. Aber eine Verschwörung ist nicht die einzige Macht, die unsichtbar Menschen und Regierungen zu einem gemeinsamen unverhältnismässigen Verhalten bewegen kann. Da gibt es soziale, psychische und wirtschaftliche Dynamiken, mit denen wir Menschen uns gegenseitig beeinflussen, ohne uns dessen bewusst zu sein. Zu meinen, Machthaber oder Machtsysteme handelten strikt nach rationalen Grundsätzen, ist ein Trugschluss. Die Handelnden sind letztlich immer Menschen mit all ihren Ambitionen, Hoffnungen, Ängsten und Illusionen.

    Die Frage ist: Brauchen wir vor all dem Intransparenten, das da hinter den Kulissen der Macht vor sich geht – seien es nun bewusste Absprachen oder unbewusste Dynamiken – Angst zu haben?

    Als Christen brauchen wir vor gar keiner Macht Angst zu haben. Eine weltliche Macht kann uns einsperren, behindern, enteignen, verletzen, töten. Aber sie kann uns weder unsere Freiheit, noch unsere Liebe, noch unser Leben nehmen. Als Paulus im Gefängnis sass und mit seiner Hinrichtung rechnen musste, schrieb er in einem Brief an seine Mitchristen:

    Wir dagegen haben schon jetzt Bürgerrecht im Himmel, bei Gott. Von dort her erwarten wir auch unseren Retter, Jesus Christus, den Herrn. Er wird unseren schwachen, vergänglichen Körper verwandeln, sodass er genauso herrlich und unvergänglich wird wie der Körper, den er selber seit seiner Auferstehung hat. Denn er hat die Macht, alles seiner Herrschaft zu unterwerfen. Philipper 3,20-21

    Keine noch so heimliche oder unheimliche Macht kann uns dieses Bürgerrecht nehmen. Durch Christus haben wir freien Zugang zu Gott. Sein Geist befähigt uns zur Liebe und auferweckt uns zum Leben in seiner neuen Welt.

    Als Christen haben wir die Aufgabe, als Botschafter Gottes in der hiesigen Welt zu agieren. Der Gott, der sich in Jesus Christus offenbart, ist ein Gott des Lichts und der Wahrheit. Seine Machenschaften sind nicht heimlich, sondern offenbar jedem, der die Bibel liest und sich auf die Beziehung mit ihm einlässt. Weltliche Macht ist nur heilsam, wenn sie darin der Macht Gottes nacheifert. Was Recht ist, braucht sich nicht zu verstecken. Mit den Worten des Schweizer Theologen Karl Barths:

    Wo Freiheit und Verantwortlichkeit im Dienst der Bürgergemeinde Eines sind, da kann und muß vor Aller Ohren geredet, vor Aller Augen gehandelt werden, da können und müssen der Gesetzgeber, der Regent und der Richter – ohne sich das Heft durch das Publikum verwirren zu lassen, ohne von diesem abhängig zu werden – grundsätzlich nach allen Seiten zur Rechenschaft bereit sein. Die Staatskunst, die sich ins Dunkel hüllt, ist die Kunst des Staates, der […] das böse Gewissen seiner Bürger oder seiner Funktionäre zu verbergen hat. Die Christengemeinde wird ihm darin auf keinen Fall Beistand leisten. (aus „Christengemeinde und Bürgergemeinde“ )

    Als Christen und als Kirchen sind wir gerade dann staatstragend, wenn wir die kritische Distanz zum Staat bewahren und Offenheit und Transparenz von unseren Machthabern fordern. Es mag Berater geben, die den Regierenden weismachen wollen, dass die Kooperation des Volkes am Besten mit Halbwahrheiten und Angstschüren zu erreichen sei. Das mag im Moment am schnellsten zum Erfolg führen. Auf die Dauer wird solche Intransparenz jedoch erst recht Misstrauen und Verschwörungstheorien fördern. Je einschneidender die Massnahmen, umso umfassender müssen wir von den Regierungen Rechenschaft fordern. In der Bibel steht:

    Gott ist Licht, und Finsternis ist keine in ihm. Wenn wir sagen: Wir haben Gemeinschaft mit ihm, und gehen unseren Weg in der Finsternis, dann lügen wir und tun nicht, was der Wahrheit entspricht. Wenn wir aber unseren Weg im Licht gehen, wie er selbst im Licht ist, dann haben wir Gemeinschaft untereinander, und das Blut seines Sohnes Jesus reinigt uns von aller Sünde. 1. Johannes 1,5-7

    Die Wahrheit schafft Raum für Gemeinschaft und Vergebung, für Solidarität und Toleranz als Ausdruck einer Liebe, die sich nicht zu fürchten braucht.

    1. Danke für die ausführliche und engagierte Rückmeldung! Das aufgeregte schwarz-weiss zeichnen und die schnellen Schubladisierungen, die Sie aus eigenen Erfahrungen heraus beschreiben, sind genau was auch mich beschäftigt und zu dieser Blogserie veranlasst hat. Und danke auch für den Hinweis auf die christliche Hoffnung, welche auch die gegenwärtige Krise noch einmal in einen ganz neuen Horizont stellt!

    2. Lieber Peter
      Danke für Ihre Worte. Vieles spricht mir aus meinem Herzen.
      Auch konfessionsfrei begleiten mich sehr ähnliche Gedanken durch diese Zeit – und auch mein Glaube, der keinen Namen, keinen spezifischen Gott hat, hilft mir und lässt mich Einiges genau so wahrnehmen.
      Ich wünsche mir, dass jeder Mensch selber denkt, selber fühlt, achtsam durch die Welt geht und dementsprechend handelt und wirkt.
      Die stärkste Kraft bleibt die Liebe – da bin ich mir sicher.
      Danke.
      Pollyanna

  3. Spannende und aufschlussreiche Beiträge, danke!
    mich beschäftigen diese Fragen auch und vor allem auch diese eine Frage:
    wie kann ich – aus einer privilegierten Situation heraus (ich bin im Moment nicht erwerbslos, bin gesund) diese christliche Botschaft kommunizieren?
    Von Sozialdiakoninnen aus Kirchgemeinden und aus der Schule meiner Kinder erfahre ich von Familien, die auf Grund der Krise zu Sozialhilfebezüger/innen werden….- Armut in der reichen Schweiz macht einsam, führt zu Suchtverhalten, zu Gewalt, zeigt vielen Betroffenen, was schon immer galt: dass sie zu den weniger Privilegierten gehören.
    Wie finden wir zu einer Gesellschaft, die bereit ist, mehr zu teilen? Wie lernen wir als Gesellschaft, dass wir Leib Christi sind und nur gemeinsam glücklich werden können?

    1. Danke für die starken und gewichtigen Rückfragen – ja, das beschäftigt mich genauso. Das Evangelium zu kommunizieren schliesst ja den Blick und die Hilfestellung, Grosszügigkeit, Solidarität für andere gerade mit ein. Die Fragmentierung der Gesellschaft in unterschiedlichen Filterblasen, Subkulturen usw. unterläuft m.E. diese Werte bzw. Kommunikationsmedien.

  4. In dieser Kirche-armen Zeit habe ich, über 80jährig, mal tastende Schritte in REFLAB versucht. Diese Form ist mir natürlich fremd und wird es wohl auch noch bleiben. Aber der Beitrag über Verschwörungstheorien war für mich ein Volltreffer, auf so etwas hatte ich gewartet und warte gern auf mehr.
    Hilfreich und ermutigend, danke vielmal

    1. Liebe Frau Steck! Herzlich willkommen auf RefLab – und vielen herzlichen Dank für die ermutigende Rückmeldung! Der nächste Teil meiner Blogserie zum Thema Verschwörungstheorien kommt bald… Liebe Grüsse Manuel Schmid

  5. Pingback: Verschwörungstheorien [Teil 2] – Eine Problemanzeige | RefLab

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