Der neu erschienene Band «Christentum von rechts» befasst sich mit der religiösen Seite der Neuen Rechten als Brückenmilieu zwischen Konservatismus und Rechtsextremismus. Die Autor:innen, darunter Johann Hinrich Claussen (Podcast «Draussen mit Claussen»), nehmen gegenmoderne katholische und lutherische Kirchlichkeit, evangelikale und charismatische Bewegungen und spirituelles Einzelgängertum in den Blick. Ihr Unterfangen verstehen sie auch als Selbstprüfung. Denn manches in den «Theologien» der Neuen Rechten steht uns näher als uns lieb sein mag. Es ist das deklarierte Anliegen, diese «Theologien» zu verstehen (ohne gleich Verständnis zu zeigen) und sich um Klarheit, Differenzierung und Fairness zu bemühen.
Martin Fritz gibt einen Überblick über theologische Grundmotive eines «Christentum von rechts». Dabei setzt er sich mit zwei Sammelbänden aus dem rechten Ares-Verlag auseinander. In diesem herausragenden Beitrag – eine unbedingte Pflichtlektüre zum Thema – gelingt es dem Autor aufzuzeigen, wie traditionalistischer Katholizismus und evangelikaler Biblizismus sich treffen in einem Krisenbewusstsein, das einen Niedergang des christlichen Glaubens diagnostiziert und dafür einen Linksruck in Kirche und Gesellschaft verantwortlich macht.
Die zentralen Motive sind dabei: Ordnung statt Relativismus, Verantwortung statt Moralismus, Verwurzelung statt Globalismus, Selbstbehauptung statt Dialogismus, Selbstgewissheit statt Skeptizismus.
Ein entschiedenes Christentum sieht sich im Kampf gegen eine beliebig gewordene Kirche, den linksliberalen Mainstream, den Vormarsch des Islam. Aber es ist unverzichtbar, zwischen einem konservativen Christentum und einem Christentum von rechts möglichst sorgfältig zu unterscheiden.
Geteilte Ressentiments
«Rechtes Christentum», so Fritz, «ist christlicher Konservatismus im Kulturkampfmodus.» Es verbindet das depressive Gefühl, ins Hintertreffen geraten zu sein, mit «aggressiver Entschlossenheit zur religiös kulturellen Gegenoffensive».
Umgekehrt wäre es ein Gewinn, wenn es gelänge, Teile des rechten Christentums für einen christlichen Konservatismus zu gewinnen, der auf populistische Eskalation verzichtet.
Andreas Kubik analysiert eine Mahnwache der Neuen Rechten anlässlich des Terroranschlags am Berliner Breitscheidplatz liturgisch und homiletisch. In seinem Fazit streicht er heraus, dass die Öffnung der deutschen Kirchen für die Demokratie und die gesellschaftliche Liberalisierung zu einer gewissen Repräsentationslücke geführt habe. Daraus resultiert für Kubik eine schwierige Doppelaufgabe: die klare Abgrenzung von undemokratischen Tendenzen und die Gesprächsfähigkeit gegenüber Menschen, die der Neuen Rechten nahestehen oder mit ihr sympathisieren.
Der EKD-Kulturbeauftragte Johann Hinrich Claussen, im RefLab vertreten mit einem eigenen Podcast, versteht in seinem Buchbeitrag, die Politische Theologie von Karlheinz Weissmann, der der AFD nahesteht, als «Kultur der Niederlage». Weissmann vertritt ein konservatives Luthertum und verbindet es mit germanischen Motiven. Sorgfältig arbeitet Claussen das Autoritäre und die antijüdischen Züge seines Denkens heraus und weist auf die Inkonsistenzen in der Verbindung von lutherischer Ordnungstheologie und germanischen Mythen hin.
Arnulf von Scheliha setzt sich mit dem Volksbegriff der Neuen Rechten auseinander und reklamiert demgegenüber den Begriff des Volkes für ein liberales Staatsverständnis. Der abschliessende Beitrag von Rochus Leonhardt zur politischen Kultur Deutschlands überschreitet in meinen Augen gelegentlich die Grenze zwischen dem Verstehenwollen hin zu einem Verständnis, das problematisch und fragwürdig erscheint.
Die Erfolge rechtspopulistischer Parteien und Bewegungen werden von den Sozialwissenschaften unter anderem mit einer Repräsentationslücke erklärt. Teile der Gesellschaft fühlen sich durch die traditionellen Parteien und deren Positionen nicht mehr repräsentiert.
Wenn gelegentlich zu hören ist, dass man in der Schweiz oder in Deutschland nicht mehr frei seine Meinung äussern dürfe, dann lässt sich leicht nachweisen, dass von einer Einschränkung der Meinungsfreiheit keine Rede sein kann. Worum es aber eigentlich geht, ist nicht die Furcht vor Zensur, sondern ein tief sitzendes Gefühl, sich mit bestimmten Meinungen ausserhalb des gesellschaftlichen Mainstreams zu stellen und kein Gehör zu finden.
Es ist dieses Gefühl, das heute bei Konservativen und Traditionsbewussten weit verbreitet ist und sie anfällig macht für rechtspopulistische Bewegungen.
Das Gefühl, nicht repräsentiert zu werden
Es könnte sein, dass es diese Repräsentationslücke auch in unserer reformierten Kirche gibt. Wenn von rechtsbürgerlicher Seite ein Übergewicht linksliberaler und grüner Positionen beklagt wird, ist das ja nicht einfach ein politischer Schachzug oder ein Hirngespinst. Viele reformierte Positionsbezüge haben durchaus eine Nähe zu Positionsbezügen aus diesem Milieu und viele kirchliche Schlüsselpositionen sind von Personen besetzt, die in diesem Milieu zu Hause sind. Das ist das Ergebnis eines tiefgreifenden Transformationsprozesses, einer Liberalisierung von Theologie und Kirche.
Die entscheidende Frage ist nicht die, ob diese Transformation stattgefunden hat, sondern wie wir damit umgehen. Anders gesagt: Es kann nicht darum gehen, diesen Wandel rückgängig zu machen, sondern ihn anzuerkennen und selbstbewusst als Freiheitsgewinn in Anspruch zu nehmen und zugleich selbstkritisch nach den Verlusten zu fragen und nach denen, die bei diesem Wandel auf der Strecke zu bleiben drohen.
Für meine Generation, in der viele sich als Kämpfer:innen gegen das konservative Establishment, die bürgerliche Theologie und Kirche und die Beharrungskräfte in Kirche und Gesellschaft verstanden haben, kann es verstörend sein, wenn der Kampf gegen das Establishment und den Mainstream plötzlich von rechts in Anspruch genommen wird.
Kann es sein, dass wir noch nicht ganz begriffen haben, dass viele unserer Forderungen gesellschaftlicher und kirchlicher Liberalisierung längst Mainstream geworden sind?
Ich bin froh und dankbar, dass unsere Kirche in vielem offener und liberaler geworden ist und dass sie sich einsetzt für Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung, dass sie sich den Schwächsten in unserer Gesellschaft und weltweit verpflichtet weiss. Schon diese Aufzählung zeigt aber eine gewisse Nähe zu bestimmten politischen Positionen. Zu dieser Nähe fühle ich mich durch das Evangelium verpflichtet. Aber das entbindet mich und andere nicht von der Pflicht, das Gespräch mit dem konservativen Flügel unserer Kirche aktiv zu suchen, uns darum zu bemühen, dass konservative Christ:innen unsere Kirche ebenfalls als Heimat empfinden können.
Platz für konservatives Christentum
Das bedeutet nicht, die eigenen Überzeugungen und Haltungen zu relativieren oder zu verschleiern, aber es bedeutet, konservative Glaubenshaltungen ernst zu nehmen und die damit verbundenen Anliegen zu verstehen. Deshalb ist mir das Gespräch, das wir in den Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn mit den landeskirchlichen Gemeinschaften pflegen, so wichtig. Und darum wehre ich mich auch gegen alle Versuche, konservative Stimmen in unserer Kirche zum Schweigen zu bringen oder sie als Hinterwäldler abzustempeln. Wir brauchen den Streit in der Sache – zum Beispiel bei der Öffnung der Trauung für gleichgeschlechtliche Paare.
Wir brauchen eine klare Kante gegenüber undemokratischen rechtspopulistischen und rechtsextremen Tendenzen. Wir brauchen aber auch Platz in unserer Kirche für ein konservatives Christentum und ein Gespräch, das sich bei allen Differenzen zuallererst um ein Verstehen des anderen bemüht – um dann herauszufinden, ob wir für das, was wir nun verstehen, auch Verständnis aufbringen können.
Johann Hinrich Claussen, Martin Fritz, Andreas Kubik et al., Christentum von rechts. Theologische Erkundungen und Kritik, Mohr-Siebeck 2021
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9 Gedanken zu „Theologie der Neuen Rechten“
Da sitzt man lange an einem Buch, in diesem Fall mit vier Kollegen, und weiß nicht recht, wie es aufgenommen wird. Dann erscheint eine Besprechung, die zeigt, dass man verstanden wurde, wie man es gemeint hatte. Und zugleich bekommt man neue Anregungen, in diesem Fall über Schweizer Parallelen. Dann kann man ziemlich fröhlich sein. Vielen Dank, lieber Bernd Berger!
Lieber Herr Claussen
Vielen Dank für Ihr freundliches Feedback – die Freude ist natürlich auch auf der Seite des Rezensenten, wenn die Autoren sich verstanden fühlen.
Bernd Berger
Der Wunsch nach Ehe und kirchlicher Trauung ist ein ziemlich konservativer Wunsch. Verbindlichkeit und ein traditionelles Hochzeitsfest in der Kirche passen doch grad super zu den oben im Blog erwähnten konservativen Werten wie Verantwortung und Verwurzelung. Drum halte ich die kirchliche Trauung für gleichgeschlechtliche Paare für ein schlechtes Diskussions-Beispiel. Zudem gibt’s einfach Dinge, die UNVERHANDELBAR sind. Zum Beispiel, dass die Erde rund ist, dass die Reformierten Frauen ordinieren, dass Hautfarbe, Geschlecht und sexuelle Orientierung keine Rolle spielen. Kontrovers diskutieren kann man darüber wie sich Kirche politisch äussert und einbringt. Ob zu viele Regenbogen auch mal nerven…Oder dass Kirche die Alten, die Geringverdiener*innen und wenig Hippen auf dem Radar behält.
Wir sind uns in fast allem einig. Auch darin, dass gewisse Dinge “UNVERHANDELBAR” sind.
Deshalb enthält das Diskussionspapier von Refbejuso zur Trauung für alle auch einen Abschnitt unter dem Titel
“Worüber wir nicht diskutieren”. Dort heisst es: “In den Diskussionen um Homosexualität kursieren auch fragwürdige Auffassungen und Unterstellungen, manche von ihnen sind abwertend und verletzend. In einem ernsthaften Gespräch haben solche Meinungen keinen Platz. Um der Klarheit willen seien einige davon lediglich erwähnt.
a. Entstehung von Homosexualität Die Entstehung von Homosexualität ist gut erforscht. Bei ihrer Thematisierung in kirchlichen Diskussionen muss man klären, mit welchem Interesse danach gefragt wird. In der Forschung besteht Konsens darüber, dass eine gleichgeschlechtliche Orientierung in der Regel nicht frei gewählt, aber auch nicht Ausdruck einer entwicklungspsychologischen Störung ist. Sinnvollerweise geht man davon aus, dass eine homosexuelle Orientierung – wie jede sexuelle Orientierung – eine Dimension der Identität bildet, unabhängig davon, ob sie angeboren oder erworben ist.
b. Therapierbarkeit von Homosexualität Dass die sexuelle Orientierung eine zu anerkennende Dimension der Identität bildet, wird geleugnet, wo man annimmt, Homosexualität sei auf medizinischem, psychotherapeutischem oder geistlichem Wege «heilbar». Bereits diese Voraussetzung ist tief verletzend, und die traumatischen Ergebnisse entsprechender «Therapien» bestätigen, dass es sich dabei um einen Irrweg handelt, von dem sich unsere Kirche in aller Deutlichkeit distanzieren sollte.
c. Homosexualität und Pädophilie Der Missbrauchsskandal in der römisch- katholischen Kirche hat dem Vorurteil, es bestehe ein enger Zusammenhang zwischen homosexuellen und pädophilen Neigungen, neuen Auftrieb gegeben. Auch dieses Vorurteil, das statistisch leicht widerlegt werden kann, ist für betroffene Menschen verletzend, wird doch ihre sexuelle Orientierung von vornherein unter einen strafrechtlichen Generalverdacht gestellt.”
Du wirst vielleicht sagen, dass das alles Selbstverständlichkeiten sind. Das sehen wir auch so und deshalb diskutieren wir auch nicht darüber. Nur sehen das leider immer noch nicht alle.
Danke für deine Antwort. Mich stört wenn als Beispiel für konservativ oder progressiv die sexuelle Orientierung dient. Sexuelle Orientierung ist weder rechts noch links. Konservativ sein heisst nicht automatisch, die Ehe und kirchliche Trauung für alle abzulehnen. Auf der anderen Seite gibt es LGBTIQ*-Christ*innen, die theologisch konservativ sind.
Bei deinem Blogbeitrag kam mir übrigens das neue streitbare Buch von Sahra Wagenknecht in den Sinn, “die Selbstgerechten”. Das habe ich ganz gern gelesen und sehe manche ihrer Punkte.
Vielen Dank, Herr Berger, für den gründlichen Beitrag und den Verzicht auf die Abwertung von Andersdenkenden. Das wäre wirklich toll, wenn die “Repräsentationslücke” geschlossen werden könnte. Das würde die Identifikation mit der Kirche gewaltig fördern. Ein wichtiger Schritt dahin könnte sein, wenn es auch für konservativere Stimmen eine Diskussionsplattform gäbe.
Lieber Bernd,
danke für diese Rezension — das Buch werde ich mir besorgen. Es gibt tatsächlich viel Diskussionsbedarf auf verschiedenen Ebenen. Und ich teile dein Anliegen, das Gespräch zwischen progressiveren und konservativeren Strömungen und Positionen aufrechtzuerhalten. Was ich allerdings zu bedenken geben möchte: Von einer „Repräsentationslücke“ konservativerer Christ:innen kann in der Schweiz m.E. gerade auf nationaler (reformierter) Ebene eigentlich keine Rede sein. Ex-EKS-Präsident Locher war definitiv ein Konservativer, die jetzige Präsidentin Rita Famos schon eher (FDP-nahe), aber als „links“ kann man sie jetzt auch nicht bezeichnen. Dasselbe gilt für mehrere andere Mitglieder der EKS-Rats sowie viele EKS-Synodemitglieder.
Kurz: Ich halte das Narrativ von der „Repräsentationslücke“ hier für einen Mythos, dem wir nicht aufsitzen sollten, weil er die tatsächlichen Machtverhältnisse verzerrt darstellt und gerade die neurechten, nicht nur konservativen, sondern ‚identitäeren‘ Christ:innen in ihrer falschen Opferhaltung noch bestärkt.
Edit: es sollte heissen “… die jetzige Präsidentin Rita Famos schon WENIGER [konservativ] …”
Mmh, da ist was schiefgegangen und nur meine Nachbesserung erschienen. Also nochmal:
Lieber Bernd,
danke für den Hinweis auf das Buch, ich werde es mir sicherlich anschaffen. Mit deinem Anliegen, das Gespräch zwischen progressiven und konservativen Strömungen und Gruppen innerhalb der Kirche nicht abreissen zu lassen, stimme ich völlig überein. Was die “Repräsentationslücke” anbelangt, sehe ich die Lage in der Schweiz – jedenfalls auf nationaler Ebene (EKS) – anders als du. Der ehemalige EKS-Ratspräsident Gottfried Locher z.B. war klar ein Konservativer. Die jetzige Präsidentin Rita Famos schon weniger (sie bezeichnet sich als FDP-nahe). Sie ist aber definitiv auch nicht “links”. Weitere aktuelle EKS-Ratsmitglieder kann man klar dem konservativen Spektrum zuordnen, dasselbe gilt für eine stattliche Anzahl von EKS-Synodemitgliedern.
Kurz: Mindestens hier ist die Rede von der “Repräsentationslücke” fehl am Platz, sie gibt die tatsächlichen Machtverhältnisse sogar verzerrt wieder.
Das weist auch auf ein grundsätzliches Problem dieses Begriffs: Wenn man ihn nicht sehr präzis und konkret auf konkrete Institutionen, Regionen und Gruppen anwendet, läuft man Gefahr, damit einen Mythos zu bedienen, den die neurechten, identitären (und nicht “bloss” konservativen) Christ:innen nur zu gerne pflegen: Dass sie eine der ungehörte, gar ausgegrenzte, bald verfolgte Minderheit seien – und diesen Mythos dann als Legitimation nutzt, um über allerlei Dinge zu verhandeln, von denen in den obigen Kommentaren zurecht gesagt wurde, sie seien nicht verhandelbar.