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 Lesedauer: 4 Minuten

Sich anfreunden mit der Selbstverständlichkeit des Unberechenbaren

Ja, ich gebe es zu: Die Idee, sich mit diesem bescheuerten, völlig überflüssigen und todbringenden Virus anzufreunden, wäre … sorry … kompletter Dünnpfiff. Und das sollte sich auch der letzte Corona-Erklärbär geben. Jeder Einordnungsversuch in ein übergeordnetes Sinnganzes wird sich gefährlich infizieren, wenn er nicht den gebotenen Mindestabstand einhält.

Freundschaftliche Nähe und Distanz

Ich selbst fühle mich in diesen Tagen überhaupt nicht in der Lage, irgendeine soziologische, ökologische, theologische – was auch immer – Erklärung aufzunehmen. Ich fühle mich aber eingeladen, dieses Leben so zu nehmen, wie es sich gerade bietet. In einem Geist der Freundschaft. Die lebt bekanntlich davon, dass Nähe und Distanz immer wieder neu austariert werden.

Spürbare Annäherungsversuche

Die unbeherrschbare Seite des Lebens mutet mir schon seit längerer Zeit echte Schockstarre zu. Von 9/11 und anderen Undenkbarkeiten will ich gar nicht anfangen. Ich denke zuerst an jene unzähmbare Krebserkrankung, die meine Frau mittlerweile schon dreimal heimgesucht hat. Oder an die Dialektik der Moderne: Es sind ironischerweise die „Folgen der Erfolge von Modernisierung“, die aus uns eine „Weltrisikogesellschaft“ machen (Ulrich Beck). Und letztens machte Hartmut Rosa darauf aufmerksam, dass unsere aggressiven Versuche, das Leben verfügbar zu machen, die Welt zurückweichen lassen könnten. Die Unverfügbarkeit des Lebens kehrt dann als Monster wieder zurück.

Schmerzhaftes Aushalten

Viren sind doof, tödliche sind abscheulich. Es fällt mir so schwer, sie als Teil des Lebens zu akzeptieren. Scheinbar hat Gott sich entschieden, eine Welt zu erschaffen, in der so etwas möglich ist. Scheinbar gibt es keinen Weltsicherheitsmechanismus, der immer dann einrastet, wenn es brenzlig wird.

Was wird diese Pandemie irgendwann von uns übriglassen und mit uns gemacht haben?

Die Expert*innen aller Fachrichtungen üben sich in einem wohltuenden, beredten Schweigen. Was auch sonst, wenn für Tausende das Leben verstummt? Ein trauriges, angstvolles Seufzen erfüllt die Tiefe, von dem ich mich anstecken lasse, auch wenn ich nicht zur Risikogruppe gehöre. Ist das etwa der seufzende Heilige Geist in uns (Röm 8,19-26)? Erste Signale, dass ein Leben mit dem Unberechenbaren möglich sein könnte. Weil Gottes Geist uns gemeinsam aushalten lässt, uns angstfähig macht.

Hoffnung auf Anfreundung

Dasselbe unberechenbare Spiel der Lebenskräfte bringt die verblüffendsten und schönsten Kreaturen hervor. Derselbe Gletscher, der Menschen unter sich begraben kann, schleift die Alpen zu atemberaubender Schönheit. Ich juble über das, was die unberechenbaren Menschen derzeit so liebevoll, gütig und kreativ hervorbringen. Und es ist für mich auch kein Zufall:

Ausgerechnet dort, wo das Lied vom Tod am lautesten spielt, musiziert man einander Hoffnung und Freude zu.

Scheinbar hat sich Gott entschieden, dem verunglückten Spiel im Chaos immer wieder Sinn und Glück abzugewinnen. Könnte der Heilige Geist des Lebens sein, der Christus von den Toten auferweckt hat. Wird die Christenheit an Ostern das tun, was sie seit Jahrtausenden tut … den Tod auslachen?

Achtung, damit uns das Lachen nicht im Halse stecken bleibt

Leider entartet dieses Osterlachen immer wieder in ein geistloses Grinsen. Nämlich dann, wenn ich erhaben über den Dingen stehen will: „Gott hat Corona initiiert und orchestriert, um uns etwas Gutes beizubringen.“ Aufschlussreich, wie das gegenwärtig nicht nur aus konservativen Kreisen der Christenheit kommt, sondern aus den Hälsen vieler Kultur- und Fortschrittspessimisten. Klingt dann gar nicht nach Lachen, sondern eher nach einem triumphierenden, wenn nicht gar hämischen Recht auf den prophezeiten Untergang.

Befreundet mit dem Freund des Lebens

Damit mir dieser Kloss nicht im Halse stecken bleibt, sage ich weder „danke Corona“, noch huldige ich der zurückschlagenden Mutter Erde, noch preise ich eine Gottheit, bei der das Leben von Ewigkeit her minutiös berechnet und kontrolliert ist. Ich glaube an einen Gott, der so sehr Freund des Lebens ist, dass er sich mit der Unberechenbarkeit des Lebens angefreundet hat. Bis hin zum absolut Undenkbaren: Er erfährt die tödliche Unbeherrschbarkeit am eigenen Leib.

Das Leben ist selbstverständlich … unberechenbar

Ich glaube aber auch an den Heiligen Geist, der weht wo er will. Eine höchst unberechenbare und unzähmbare Freundin der Geschöpfe, die Leben schafft und heilt, wenn es niemand mehr für möglich hält.

Slavoj Žižek schrieb am 13. März 2020 in der NZZ:

„Das Leben wird, selbst wenn es am Ende wieder zur Normalität zurückkehrt, auf andere Weise normal sein, als wir es vor dem Ausbruch gewohnt waren.“

Wird das Unberechenbare die neue Normalität? Werde ich – ein wenig ähnlich wie Gott – zum Freund des ungeschminkten Lebens?

Photo by cottonbro from Pexels

8 Kommentare zu „Sich anfreunden mit der Selbstverständlichkeit des Unberechenbaren“

  1. Danke Andreas
    Sehr gut,wie immer scharf nachgedacht. Dein Beitrag passt zu meiner eben beendeteten Leküre des kleinen aber hilfreichen Büchleins: „Als mir das Licht unerträglich wurde“ Marion Mullrer-Colard, TVZ 2019.

  2. As the hand is made for holding,
    and the eye for seeing,
    You have fashioned us for joy.
    Share with us the vision that
    shall find it everywhere.
    And, when our song of joy dies down to silence,
    come, hold our powerlessness with love!
    Then shall our fear be gone,
    and our feet set on a radiant path.

    Blessings, Reinhard Frische

  3. Danke. Unberechenbarkeit des Lebens UND Unberechenbarkeit des Heiligen Geistes – das bleibt mir. Das gefällt mir. Da stimmt etwas zutiefst. Nicht so gefallen hat mir die Erhabenheit, mit du die „Erhabenheit“ gewisser Stellungnahmen kritisierst, z.B. „Gott hat Corona initiiert und orchestriert, um uns etwas Gutes beizubringen.“ Treffen wir uns doch in der Mitte – Äußerungen dieser Art dürfen sein, wenn sie nicht absolut gesetzt werden: DAS ist jetzt die entscheidende Interpretation, die den Lead haben muss. Ich halte daran fest, dass Gott hier ohne Zweifel mitmischt, mit seiner eigenen Agenda. Ich würde es sogar als ein „Orchestrieren“ bezeichnen, eher nicht als ein Initiieren.

    1. Danke für aufmerksames Lesen und waches Mitdenken. Und für die Einladung in die Mitte. Aus der heraus habe ich zu schreiben versucht und wollte alles andere als erhaben rüberkommen.
      Ich hoffe, dass auch diejenigen, welche die hidden Corona Agenda Gottes zu kennen meinen, der Einladung in die Mitte folgen. In dieser Mitte beansprucht niemand absolute Gottesstandpunkte. Heisst für mich: Ich hoffe von ganzem Herzen, dass Gott in der Pandemie irgendwie mitmischt. Aber wer weiss schon genau wo und wie? Durch die Brille von Karfreitag und Ostern betrachtet ahne ich: Wenn er mitmischt, dann hat er sich eventuell bereits selber infiziert.

  4. Danke lieber Andy für den hervorragenden Artikel!
    Ein etwas längeres Zitat von Martin Buber, der mir in den Sinn kam und passend schien:
    „Nun aber das JHWH den von Israel gebrochenen Bund als nicht mehr bestehend erklärt, entsteht zwischen ihm und dem Volk etwas neues. Er ‚verlässt sein Haus‘ [Jer 12,7] zieht sich in den Himmel zurück und, wird jetzt erst ganz Himmelsgott, Weltgott, Allgott; als ‚ein Gott aus der Ferne‘, der Himmel und Erde füllt (23, 23f.) und alles wahrnimmt, aber allem überlegen bleibt, will er erkannt werden. Aber er bleibt zugleich bei den Verstoßenen, bei den Leidenden. […] Seine wachsende Unbegreiflichkeit wird dadurch gemildert und sogar ausgeglichen, dass er der Gott der Leidenden und das Leid ein Zugang zu ihm wird, wie wir schon aus Jeremias Leben erkennen, wo der Fortgang des Martyriums in eine immer reinere und tiefere Gemeinschaft mit JHWH führt.“ — Martin Buber, Der Glaube der Propheten, 262.

  5. Hallo lieber Andi,
    Vielen Dank für diese inspirierenden tiefsinnigen Überlegungen! Hab mich sehr darüber gefreut.

    In einem meiner Uni-Seminare machen wir uns gerade Gedanken zu COVID-19 und die Theologie. Inspiriert von deinem Blogbeitrag und darüber hinaus ein Formulierungsversuch von mir:

    Das Leben in unserer Welt ist und bleibt unberechenbar und unbeherrschbar. So führt uns die aktuelle Situation vielleicht gerade zu schmerzlich unsere Geschöpflichkeit und Endlichkeit vor Augen.
    Aber wir glauben an einen Gott, der sich in Christus selbst dieser „tödlichen Unbeherrschbarkeit“ ausgesetzt hat und der sie gleichzeitig überwunden hat im Heiligen Geist, welcher weht wo er will und „Leben schafft und heilt, wenn es niemand mehr für möglich hält“, der damit also auf seine Weise unberechenbar ist.
    Vielleicht werden uns so Karfreitag und Ostern dieses Jahr ganz neu eine Einladung an uns: Dieses Leben in all seiner Unberechenbarkeit und Endlichkeit anzunehmen und zu gestalten. Sich damit anzufreunden, dass wir nicht alles erklären und sinnvoll machen können. Und die Hoffnung wachzuhalten, dass diese Welt nicht alles ist und uns gerade ihre Endlichkeit verweisen kann auf den, der die Auferstehung und das Leben ist.

    1. Hoch angebunden in der Hoffnung des Glaubens und gleichzeitig tief eingegraben in die Erde. So kommt mir das entgegen. Wer ist nicht neugierig auf die Feiertage vor uns, wenn er oder sie das hier liest. Eine grosszügige Einladung ganz ohne den Verdacht, dass die Kirche (mal wieder?) ein Geschäft machen will mit der Not und den Ängsten der Menschen.
      Dank Dir, Natalie

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