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 Lesedauer: 3 Minuten

Planet A. Die Klimakolumne: Die Plakatfrau und der Affe

Muskelkater

Ich sitze an der Bushaltestelle und habe Muskelkater – wie so oft nach einem Tag im Büro. Es ist nicht mein Bizeps, der schmerzt, sondern die Muskeln meiner Willenskraft. Pausenlos habe ich meinen Willen angespannt: In einer Sitzung ausharren, die mich nichts angeht; freundlich lächeln, wenn jemand seinen Termin mit mir versäumt; mitfühlend nicken, wenn eine Mitarbeiterin von ihrer kranken Katze erzählt. Eigentlich zucken mir jeweils ganz andere Worte durch den Kopf und andere Gesten durch die Finger – doch mein wohl erzogener Wille hält mich zurück.

Würdevoll geniessen

Zum Glück kenne ich die Erfolgsformel, um meine überstrapazierte Willensmuskulatur zu massieren: Gönn dir etwas. Ich lasse dem Fluss meiner Sehnsüchte und Gelüste freien Lauf und ohne sie durch die Schranken meiner Vernunft zu kanalisieren. Es sollte mir ab und zu erlauben, meinen Trieben nachzugeben – schliesslich stehe ich genetisch dem Affen näher als dem Roboter.

Ich brauche etwas, das mich von einer disziplinierten Maschine wieder in einen Menschen verwandelt. Etwas, das meinem Leben einen Funken Würde zurückgibt: Auf dem Sofa liegen und mich im Online-Shopping verlieren, während ich fetttriefende Pommes in mich hineinstopfe. Je stärker ich gegen die Regeln meiner Vernunft verstosse, desto mehr entspannt sich meine Willenskraft.

Ökologisch geniessen?

Wenn ich nicht zu müde wäre, würde ich mir jetzt eine philosophische Frage stellen: Ist diese Form von Genuss immer unökologisch? Die wohlige Zufriedenheit stellt sich meistens erst dann ein, wenn ich etwas konsumiere, das ich eigentlich nicht brauche. Das heisst: Um mir etwas zu gönnen, muss ich Ressourcen verschwenden.

Die Plakatfrau

Mein Blick fällt auf ein gegenüberliegendes Werbeplakat: Mit genüsslich geschlossenen Augen fährt eine junge Frau auf dem Fahrrad an grünen Wiesen vorbei, während ihr der Wind ein verklärtes Lächeln ins Gesicht weht. Plötzlich schlägt die Plakatfrau ihre Augen auf und wendet sich mir zu: «Ich geniesse mein nachhaltiges Leben», sagt sie mit einem glockenhellen Lachen. Ich bin mir sicher, dass mich eine Fahrt durch die grüne Landschaft ebenfalls entspannen würde.

Ein verlockendes Angebot

Doch sofort spüre ich meine schmerzenden Willensmuskeln. «Mein Fahrrad müsste ich schon seit Wochen reparieren, und überhaupt: sobald ich das Gefühl habe, etwas Sinnvolles zu tun, verkrampft sich mein Wille.»

Die Plakatfrau lächelt noch immer und deutet einladend auf den Gepäckträger. Da es unvernünftig ist, mit fremden Menschen mitzufahren, schwinge ich mich hinten auf und wir fahren gemeinsam in den Sonnenuntergang.

Der Bus hält keuchend vor mir an und ich fahre erschrocken hoch. Noch etwas verschlafen taumle ich zu einem Sitzplatz. In dieser kurzen Traumsequenz habe ich gelernt, wie ich mir emissionsfrei etwas gönnen kann, das mir gut tut und keine Willenskraft benötigt: schlafen.

Grafik: Rodja Galli

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1 Kommentar zu „Planet A. Die Klimakolumne: Die Plakatfrau und der Affe“

  1. AM ANFANG WAR DAS WORT.
    …haargenau so heißt es,
    weil jedes Wort ist Ort
    und Wohnsitz reinen Geistes.

    Liebe RefLab-Leute !
    Die gewaltige Flut von Ungereimtheiten in den Medien ist zu kompensieren mit Reimen. Hier noch einer :

    LEBEN, denkt der Mensch beschränkt,
    das Leben sei ihm ja geschenkt.
    Dieser Irrtum wird verziehen,
    wenn du einsiehst: NUR GELIEHEN!

    Gruß, Jürgen Friedrich

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