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 Lesedauer: 6 Minuten

Neben der Spur nicht allein sein

Der gerade mit dem Deutschen Buchpreis 2022 ausgezeichneten Roman «Blutbuch» von Kim de L’Horizon dürfte für die allermeisten Leser*innen herausfordernd sein. In diesem von einem non-binären Menschen geschrieben Buch erzählt eine non-binäre Hauptfigur ihr Leben. Das müsste nicht ungewöhnlicher sein als das Gegenteil: dass Cis-Menschen über Cis-Menschen schreiben.

Ich bin’s einfach!

Aber natürlich ist es ungewöhnlich. Auch unsere Erzählfigur hätte sich über lange Wegstrecken der eigenen Biografie nicht so bezeichnet. Non-binär, die Verweigerung, sich als Mann oder Frau zu identifizieren, das ist auf der einen Seite – nichts kompliziertes, sondern das allereinfachste: «‹Wie ist es?›, fragt er. ‹Was?›, frage ich. ‹So zu sein wie du›, sagt er. ‹Wie ist es›, frage ich, ‹so zu sein wie DU?› Er zuckt die Schultern. ‹Ganz normal. Ich bin’s einfach.› ‹So bin ich’s auch. Einfach. Für mich ist es nichts. Nur für andere ist es etwas.›» (209f)

Auf der anderen Seite kann das Allereinfachste, das Gefühl, jeweils ich selbst zu sein, um Worte verlegen machen. Das gilt im Grunde für uns alle. Nur für viele ist der Sprachlosigkeit aufgeholfen durch Redeweisen, die wir durch die Macht der Gewöhnung irgendwann zu verstehen glauben.

Bei unserer Hauptfigur ist nichts selbstverständlich. Schon früh spürt sie das. Und andere bemerken es auch. «Das Kind muss sich bald entscheiden. Die Leute fragen. NA DU. WAS BIST DENN DU? BUB ODER MEITSCHI?» (87)

Klärung in Schüben

Und es ist so schwer, sich zu entscheiden, weil diese Entscheidung nur von jedem Menschen persönlich getroffen werden kann, die Alternativen dieser Entscheidung aber immer schon festgestellt zu sein scheinen. Das Allerpersönlichste lässt sich nicht finden ohne unentwegte Reibung am Allgemeinsten, der Sprache selbst.

Die innere Klarheit über sich selbst wächst nur in Schüben.

Zu Beginn der Pubertät ist vor allem eines klar: bloß nicht werden, was die Leute «Mann» nennen. Wie ein Echo mütterlicher Ängste betet es in der Kinderseele: «Bitte bitte bitte mache mich zur Frau ich möchte nicht gehen wie die Affen und ich möchte nicht grob werden und mein Gesicht soll gleichmäßig bleiben und meine Stimme soll nicht brechen und Frauen sollen keine Gegenstände werden für mich.» (88)

Dann gibt es eine längere Phase, für die es das vermeintlich stimmige Angebot des schwulen Mannes gibt. Aber auch das ist nicht endgültig.

«Und ich war ja auch tatsächlich nie schwul, weil Schwulsein geht ja nur, wenn mensch daran glaubt, dass es zwei Geschlechter gibt und dass mensch auf dasselbe Geschlecht steht; und dieses Schauermärchen von bloss zwei Geschlechtern, von zwei unschmelzbaren Gletschern, die genau das Gegenteil voneinander seien, das erzähle ich nicht weiter.» (125)

Wer bin ich? Diese Frage ist so persönlich wir universal, das heißt: sie muss innen stimmen und in der Welt klingen. Das ist kein neuer Gedanke, sondern im Grunde schon ewig bekannt. Bereits der Apostel Paulus schreibt:

«Welcher Mensch weiß, was im Menschen ist, als allein der Geist des Menschen, der in ihm ist?“

Aber eben auch:

«Nichts ist ohne Sprache.» (1Kor 14,10)

Wir denken immer schon mittels einer Sprache voller Erfahrungen, voller Bilder, voller Einteilungen, die sich für viele als passend erwiesen haben mögen – und für manche nicht.

Tiefenprägung

Im letzten Fünftel des Buches ist die Sprache Englisch, weil die Hauptfigur merkt: Sie kann sich nicht zum Ausdruck bringen in der Muttersprache des Vaterlandes, vor allem dann nicht, wenn (Groß-)Mutter und Vater nicht einfach Worte oder auch nur Menschen sind. Es sind diejenigen, ohne die mensch weder Dasein noch Geschichte noch Sprache hätte. Und die zugleich die Sprache und das Denken ihrer Kinder immer schon durch ihre eigenen Geschichten angefüllt haben.

Wie lernt man, mit fremder Sprache die eigene Geschichte erzählen zu können?

«Blutbuch» ist ein wilder Ritt: durch Jugenderinnerungen, Großmutter und Muttergeschichte, durch exzessiven Sex und weit ausholende Baumkunde. Und es ist nicht zuletzt das Protokoll eines langsamen Aufwachens aus den sexistischen und rassistischen Alpträumen unserer Zivilisation.

Für manche dürfte das Buch vor allem eine Überforderung sein und das ist keine Schande.

Die Erzählfigur berichtet von reichlich Erfahrungen der Überforderung durch das eigene Leben. Für andere dürfte dieser Roman vor allem die tröstliche Entdeckung ermöglichen, neben der Spur nicht allein zu sein.

Für gläubige Menschen ist es vielleicht noch mal etwas anderes: eine Meditation über die Schwierigkeit, von dem zu reden, über das sich nicht reden lässt; aber über das mensch angesichts bestimmter Erfahrungen auch nicht mehr schweigen kann.

Und so ringt die Erzählfigur um Worte, und manchmal klingt es wie Beten und manchmal klingt es wie Fluchen, manchmal wie Segnen und manchmal wie Zungenrede.

Religion als Komplizin der Repression

Explizit taucht Religion nur als Komplizin repressiver Ordnungswünsche auf. «Ich schreibe dir dies, um gegen die body negativity anzuschreiben, die ich geerbt habe; vielleicht nicht von dir direkt, aber von der christlich-zentraleuropäischen Kultur.» (32) Am Beispiel der Hexenverfolgung durch viele christliche Generationen hindurch macht der Roman diese Erfahrung bedrückend anschaulich. Und wie gerne würde ich sagen, dass die Christenheit inzwischen diesem Drang, alles Fremde, Unverständliche zu fürchten, hassen, bekämpfen völlig entwachsen ist.

Aber ach. Wo Menschen die religiöse Sprache zum Schmiermittel machen, die Überforderung durch eine komplexe Welt in Wut zu verwandeln, würde man ihnen zumindest die Kraft wünschen, ein Buch wie dieses zu ignorieren.

Aber wer weiß: vielleicht kehren auch einmal Zeiten wieder, wo Menschen Religion neu als ein Abenteuer sehen lernen, Unsagbares sagen zu wollen?! Es gibt diese christliche Urerfahrung, vor etwas zu stehen, was einfach göttlich und zutiefst menschlich ist, und dies auf eine Weise, die das bisherige Bedeutungsspektrum von göttlich und menschlich gleichermaßen sprengt.

Wovon man nicht reden kann, lässt sich zumindest stammeln.

Lese- und Hörproben aus dem im Dumont-Verlag erschienenen «Blutbuch» gibt es hier.

So charakterisiert sich Kim de l’Horizon selbst: «KIM DE L’HORIZON, geboren 2666 auf Gethen. In der Spielzeit 21/22 war Kim Hausautorj an den Bühnen Bern. Vor dem Debüt ›Blutbuch‹ versuchte Kim mit Nachwuchspreisen attention zu erringen – u. a. mit dem Textstreich-Wettbewerb für ungeschriebene Lyrik, dem Treibhaus-Wettkampf für exotische Gewächse und dem Damenprozessor. Heute hat Kim aber genug vom »ICH«, studiert Hexerei bei Starhawk, Transdisziplinarität an der ZHdK und textet kollektiv im Magazin DELIRIUM. ›Blutbuch‹ wurde mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung ausgezeichnet und ist nominiert für den Deutschen Buchpreis 2022.»

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