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 Lesedauer: 5 Minuten

Meine erste Corona-Party

Der Morgennebel hängt als dünner Schleier über den Maisfeldern mit erntereifen Kolben. Die warme Herbstsonne lässt eine mittelalterliche Burg auf einem Hang leuchten. Er fahre jetzt regelmässig aufs Land zum Sonntagsgottesdienst, hatte mein Bekannter gesagt. Schön, hatte ich spontan geantwortet, ich komme das nächste Mal mit. Man rafft sich ja viel zu selten auf, rauszufahren, und ist dann immer von Neuem überrascht, wie gut einem die Landluft tut.

Die Dorfkirche ist gut besucht. Die grosse Mehrzahl der Besucher ist weiblich und 60+. Manche gehen auf die 80 zu.

Ich entschliesse mich, meine getigerte Stoffmaske durch die hellblaue OP-Variante zu ersetzen. Da spüre ich einen leichten Stoss in die Rippen. Die brauche ich hier nicht aufzusetzen, wird mir bedeutet. »Ich brauche die Maske nicht aufsetzen?«, frage ich verdutzt.

Tatsächlich: Ich scanne mit meinem Blick die Bankreihen – niemand trägt hier Maske. Ein besonders wackliger Greis stützt sich mühsam auf den Arm seiner Enkelin. Selbst er ist ohne Schutz.

Ich behalte die Maske an und fühle mich fast ein wenig unwohl, weil ich aus der Reihe tanze. Wir sind ja soziale Wesen und passen uns gern und intuitiv der Mehrheit an.

Zum Glück fällt mein Blick auf drei maskentragende Greisinnen hinter mir in den letzten beiden Bankreihen. Ich bin also doch nicht die einzige Person, die sich an die Mund-Nasenschutz-Verordnung hält.

Aus voller Kehle

Die Orgel wird von einer Querflöte begleitet – und es wird volles Rohr gesungen. Aus potenziell infizierten Kehlen. Einmal quer durchs katholische Gesangsbuch, gefühlt zwei Stunden lang: »Grosser Gott wir loben dich«, »Sei gegrüsst Maria, voll der Gnade«, »Halleluja«, »Credo in unum deum« etc. Wegen einer Kindstaufe dauert der Gottesdienst noch länger als üblich. Und dann teilt der Pfarrer die Mundkommunion aus, legt also die Oblaten direkt auf die Zungen der Gläubigen. Ich sehe mich um. Alle wirken relaxt. Ich bin es nicht.

Nur eines ist schlimmer als das Gefühl, auf der falschen Party zu sein: Wenn du merkst, du bist auf einer richtigen Party – einer Corona-Party.

Erst jetzt begreife ich den Grund, weswegen es fromme Städter neuerdings zu diesem abgelegenen Gottesdienst aufs Land zieht. Es ist der gleiche Grund, weshalb es die Jugend an Wochenenden in die stadtnahen Wälder zieht. Nicht wegen der Natur, sondern wegen der laxen, weil weniger leicht kontrollierbaren Corona-Regeln.

In Stadtkirchen werden Abstände eingehalten, Masken getragen und Desinfektionsmittel benutzt.

Die komplette Kirchenschliessung zu Corona-Beginn war für viele Ältere ein schwer zu begreifender Schlag. Ein bisschen vergleichbar vielleicht mit der Situation, wenn man die Tür zu seinem Haus plötzlich verschlossen vorfindet, dem vielleicht einzigen Ort, der noch ein wenig Geborgenheit verleiht. Der Wunsch, das Gottesdienstritual in gewohnter, vertrauter Form zu feiern, scheint für die meisten Anwesenden in der Dorfkirche offensichtlich schwerer zu wiegen als die Sorge um ihre Gesundheit.

Renitente Rentner

Bei Sonntagskirchgängerinnen habe ich bisher eher nicht an Illegalität gedacht.

An diesem Vormittag aber werde ich Zeuge einer stillen Rebellion der Alten. Rentner, für die neben den Vorerkrankten die Gesellschaft die Bürde der Corona-Einschränkungen hauptsächlich auf sich nimmt, nehmen sich in renitenter Weise die Freiheit, sich Sonntagvormittags über Verordnungen des Staates und ihrer Diözese hinwegzusetzen.

Denn trotz niedriger Erkrankungszahlen in der Gegend besteht bei öffentlichen Gottesdiensten gleichwohl Maskenplicht.

Während Weihrauchschwaden die blank polierten Putti des Altars umspielen, frage ich mich, was schlimmer wäre: Dass die zur Schau gestellte Sorglosigkeit eine Art von Demonstration christlicher Glaubensgewissheit wäre, im Sinne von: Unser Glaube ist stärker als Corona, das Virus ist ein Mittel, um zu demonstrieren, wie sehr ich mich von Gott geschützt weiss? Oder die Haltung: Corona ist Fake, daher brauchen wir uns nicht zu schützen? Verführt hier, frage ich mich, Gottvertrauen zu Sorglosigkeit und Unverantwortlichkeit? Verwechselt man die Hoffnung, selbst in schwerer Krankheit und im Sterben in Beziehung zu Gott zu bleiben, mit dem Wahn, dass Gott vor schwerer Krankheit und Tod schütze?

Eine andere Nähe zum Tod

Nach dem Segen verlasse ich fluchtartig den Raum und bin unter den ersten, die sich auf dem Kirchplatz einfinden. Zwei Maskenträgerinnen aus der hintersten Reihe tauschen ihre Verwunderung darüber aus, dass in der Dorfkirche auf Corona-Regeln gepfiffen wird. Sie schütteln ihre Köpfe und werden nicht wiederkommen. Wieder im Auto, möchte ich von meinem Begleiter wissen, ob er wegen der laxen Regeln in die Dorfkirche pilgert. Er bejaht und fügt hinzu: »Ob ich an Altersschwäche sterbe oder an Corona, ist auch schon egal.«

Es klingt fast wie der brutale Satz des deutschen Grünen Boris Palmer, für den der Politiker zurecht heftig kritisiert wurde: »Wir retten möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären.«

Nur dass hier nicht ein Mensch über andere spricht, sondern über sich selbst ­– und das ist kein geringer Unterschied.

Aus dem Satz spricht weder sorgloses Gottvertrauen noch die Unterschätzung des Covid-19-Virus, sondern eine andere Nähe zum Tod.

Ist das legitim? Natürlich nicht, wenn andere gefährdet werden. Aber wenn man sich selbst gefährdet und wenn es einen Konsens gibt, wie offenbar in jener Versammlung Vulnerabler, dass man gemeinsam das Risiko auf sich nimmt, weil man den Preis des Spiritual Distancing nicht zahlen will? Vielleicht müssen wir akzeptieren, dass es andere Perspektiven auf den Tod gibt – und dass die Vermeidung des Todes um jeden Preis nicht für alle die höchste Priorität besitzt.

 

Photo by Timothy Meinberg on Unsplash

4 Kommentare zu „Meine erste Corona-Party“

  1. Hey, diese „ Alten“ ( ich gehöre auch zu den „Vulnerablen“) haben schon viel er- und teils überlebt. Weshalb sollten sie sich noch fürchten? Das ist die innere Freiheit, welche man erst mit den Jahren erreicht und sich verdient hat. Hallelujah!

  2. Diese Menschen könnten aber durch ihre Kontakte dann auch andere anstecken, die nicht sterben oder erkranken wollen. Also ich finde das auch egoistisch.

  3. Es geht ja nicht nur um den (eigenen) Tod. Es geht darum, mitzuhelfen, die Ausbreitung einer Pandemie (mit allen ihren Begleiterscheinungen) zu verhindern oder wenigstens zu verlangsamen.

  4. Thomas Markus Meier

    Nimmt mich nur wunder, wo das war?
    Evangleische Profilierung auf Kosten konstruierter katholischer Realität? Mundkommunion seit Corona meist untersagt.
    Erst seit kurzem in Ausnahmefällen wieder erlaubt,
    aber dann nur ganz am Schluss, sozusagen,
    für die Ewiggestrigen.
    Wart ihr bei den Piusbrüdern?

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