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 Lesedauer: 9 Minuten

«Man hatte immer das Gefühl, dass es nach oben hin weitergeht»

Johanna Di Blasi: Ich darf Sie herzlich im RefLab, dem Reformierten Laboratorium, begrüssen. Wir sind eine Online Community und zugleich Sprachlabor und theologischer Salon.

Peter Sloterdijk: Aha, das ist für mich eine neuartige soziale Form und ich staune darüber, dass es dergleichen schon gibt. Aber in historischer Sicht sollte es einen nicht wundern, denn aus der reformierten Gemeinde des 17. Jahrhunderts ist ein Gutteil dessen entstanden, was man heute ein Publikum nennt: und zwar durch die Benutzung der damals fortgeschrittenen Printmedien auf der anlaufenden Bugwelle der Gutenberg-Galaxis. Heute sind wir an einer anderen mediengeschichtlichen Stelle angekommen. Ich bin gerne bereit und neugierig, eine alternative Form zu erproben.

Di Blasi: In Ihrem aktuellen Buch haben Sie das Philosophenohr ganz nahe an Botschaften des Himmels herangerückt. Wo lokalisieren Sie den Himmel?

Sloterdijk: Der Himmel, wie ich ihn thematisiere, ist kein astronomisches oder astrologisches Konstrukt, sondern eine Urmetapher für das Gewölbe, beziehungsweise die grosse Halbrundung, in der Menschen sich eingeschlossen fühlen, sobald sie bei Tag oder Nacht den Blick nach oben richten. «Himmel» ist eine Umgreifungs- oder Umhüllungsmetapher höchster Stufe. Man hatte immer ein Gefühl, dass es nach oben weitergeht und dass dieses Oben eine Hüllenstruktur anzudeuten scheint, nicht zuletzt deswegen, weil das Auge die Neigung hat, das allgemeine Drumherum als eine Art Kugel oder Halbkugel wahrzunehmen.

Di Blasi: Das blaue Sternenzelt haben Ägypter ins Innere von Sarkophagen gemalt, später taucht es bei Schinkel auf und neuerdings in der Berliner U-Bahn, bei der neu eröffneten Kanzlerlinie. Sie führen aber noch eine andere Metapher an: den erstickenden schwarzen Deckel über dem Topf, in dem die Menschheit wie in einer Hölle köchelt. Welche Metapher ist Ihrem Empfinden derzeit näher?

Sloterdijk: Ich sehe mich im Augenblick wieder mehr an dem kosmischen Pol, bei der grossen, weltoffenen Rundung. Es gab Lebensabschnitte bei mir, in denen die Empfindungsweise näher bei dieser gnostischen Idee des vollkommenen Eingeschlossenseins in einem aussichtslosen Unbehagen gelegen hatte. Das neue Buch drückt insgesamt eine Aufhellung aus.

Di Blasi: Ich habe den Eindruck, dass Sie als Autor perspektivisch über den Göttern zu schweben scheinen, also noch höher blicken als aus der Gottperspektive, die Feministinnen wie Donna Haraway als Men’s Talk entlarvt haben. Sehe ich das richtig?

Sloterdijk: Dass etwas Schwebendes an dieser Perspektive ist, gebe ich gerne zu. Das Schweben gehört ja zu einem Standort der Rede, die sich dadurch auszeichnet, dass sie vorgibt, Interaktionen zwischen Himmel und Erde beobachten zu können. Diese schwebende Beobachtung des Religiösen okkupiert übrigens einen Gesichtspunkt, der spätestens seit dem 16. Jahrhundert eine allgemeineuropäische Möglichkeit geworden war: nämlich als die Seefahrer, die aus europäischen Häfen ausgefahren waren und zurückkehrten, ihre Berichte ablieferten über die Jenseitsvorstellungen, die sie bei den Völkern ferner Länder beobachtet hatten.

Di Blasi: Die Beobachtung ist schwebend geworden mit den Techniken der frühen Neuzeit, aber die Göttlichen sind ja schon viel früher eingeschwebt: im antiken Theater mit theurgischen Maschinen, in Vorformen dessen, was wir in Kirchenkanzeln heute noch sehen.

Sloterdijk: Ja, dieses Bühnengerät, aus dem der Deus ex machina kommen konnte, dieser Gott aus der Maschine, begleitet mein Buch von der ersten bis zur letzten Seite. Ich frage immer, unter welchen Bedingungen und mit welchen Mitteln haben die Menschen versucht, dem Jenseits eine Gestalt anzudichten, und mit welchen Kränen und rhetorischen Prozeduren hat man den Göttern ihre Erscheinungspflicht nahegebracht. Diese Erscheinungspflicht kulminiert natürlich in den heiligen Schriften. Sie sind nichts anderes als eine Summe von Versuchen, den Göttern Worte in den Mund zu legen, und zwar so, dass sie nicht von den Menschen gesprochen zu sein scheinen.

Di Blasi: Da leiten Sie jetzt zum Begriff Theopoesie über aus dem Untertitel Ihres Buches. Sie greifen das säkulare Motiv heiliger Texte als Dichtung und Erfindung von Menschen auf. Sehen Sie darin trotzdem wahrheitsfähige Rede oder betrachten Sie religiöses Sprechen, wie der frühere Habermas, als defizitäre Artikulation?

Sloterdijk: Ich bin bekanntermassen kein Sympathisant der habermasischen Kommunikationstheorie und schon gar nicht ein Adept seiner, in meinen Augen defizitären Überlegungen zum Wesen künstlerischer Produktion. Mir scheint, es gibt eine Art von theologisch relevanter Urpoesie oder primärer Artikulation, auf die sich die Unterscheidung von voller oder defizitärer Rede nicht wirklich anwenden lässt. Die Erfundenheit von etwas beinhaltet letztlich keinen Einwand gegen die Wahrheit einer Sache, so wie die Tatsache, dass Flugzeuge Erfindungen sind, die Tatsache ihres Fliegenkönnens nicht widerlegt.

Di Blasi: Sie sind für einen Philosophen ein sehr poetischer Autor. Kennen Sie selber inspirierte Träume, Eingebungen, innere Stimmen, vielleicht sogar, wie Sigmar Polke, Befehle von oben?

Sloterdijk: Die Kategorie Befehl von oben ist mir in ihrer zudringlichsten Gestalt nicht begegnet. Ich habe aber im Laufe meines Lebens Zugang zu Traumphänomenen gehabt, von denen ich glaube, dass sie kollegial anschliessen an Dinge, die in den grossen Apokalypsen beschrieben sind: sowohl nach der katastrophischen Seite hin wie auch nach der idyllischen. Ich hatte vor einem Jahr Träume von einer solchen Eindringlichkeit, dass ich hinterher dachte, ich sei jetzt zu einem unfreiwilligen Kollegen des Johannes von Patmos geworden.

Di Blasi: Wie gehen Sie damit um. Führen Sie ein Traumbuch?

Sloterdijk: Nein, ich beklage mich bei meiner Frau darüber, dass ich wieder schrecklich geträumt habe.

Di Blasi: Sie haben eingangs die Gutenberg-Galaxis erwähnt, in der sich ein Lesepublikum herausgebildet hat. Im digitalen Zeitalter ist das Publikum selbst Autor und Experte. Etwas zu ‹Liken› wird mitunter schon als Form der sozialen Teilhabe angesehen und Digital Natives sammeln sich um digitale Lagerfeuer. Würden Sie sagen, die Digitalität kommt der Spiritualität entgegen – beide sind ja ungreifbar?

Sloterdijk: Radio Eriwan würde sagen, im Prinzip ja, aber nur wenn man zugibt, dass man sich an digitalem Feuer verbrennen kann.

Di Blasi: Bei Ihrem Himmelsbuch überrascht, wie Sie bei allem Nietzscheanismus auf Religion als Rest erstaunlich freundlich blicken. Ihr Befund lautet: Der Rest bleibt! Er lässt sich nicht noch weiter eindampfen. Ist dieser Rest eine Art Hefe, die den Gesellschaftsteig oder das Individuum durchgären kann, oder einfach dasjenige, wofür sich kein anderes Subsystem interessiert?

Sloterdijk: Es ist in der Tat so, dass Religionen in der Regel einen Bereich besetzen, für den keine anderen Kandidaten sich freiwillig melden.

Di Blasi: Religion, die sich nicht länger gesellschaftlich nützlich zu machen versucht, nähert sich dem Subsystem Kunst an, das das Überflüssige zum Kult erhoben hat. Ähnliches gilt für die Philosophie. Verschärft sich dadurch die Konkurrenz oder gibt es neue Möglichkeiten, Reste gemeinsam zu verwalten oder sich sogar zu solidarisieren?

Sloterdijk: Ich möchte mir den Hinweis erlauben, dass der eigentliche Ökumenismus nichts mit dem Gespräch zwischen den professionalisierten Religionsvertretern zu tun hat. In meiner Sicht wäre der ökumenische Effekt dann gegeben, wenn zwischen der Sphäre des Glaubens und der Sphäre der Kunst eine tiefere Resonanz entdeckt wird. Und wenn hier ein Grenzverkehr einsetzt, der nicht so sehr die Grenze betont als die Möglichkeit, einen gemeinsamen Fundus zu erschliessen. Das gilt auch für eine bestimmte Form der meditativen oder philosophischen Besinnung. Was der späte Heidegger «Besinnung» genannt hat, kommt dem, was ich mit dem Hinweis auf die Kunst und den religiösen Rest andeuten möchte, sehr nahe.

Di Blasi: Ein Kapitel haben sie mit «Religion ist Unglaube. Karl Barths Intervention» überschrieben. Während Sie Barth zu schätzen scheinen, können Sie für Calvin und Luther keine Sympathie aufbringen. Was stört Sie an den Reformatoren am meisten?

Sloterdijk: Ihr Augustinismus stört mich! Der Punkt, dass sie den Augustinismus nur in seiner neurotischen Form rezipiert haben, indem sie die Freiheitserfahrungen, die Menschen gewinnen können, auf die teuflische Seite abgeschoben haben. Das nehme ich ihnen übel. Letzten Endes geht es um einen Denkfehler, und der lässt sich schon bei Augustinus selber nachweisen, und hat Quellen in jener unglücklichen Form der Plato-Rezeption, der Augustinus erlegen war. Abgesehen davon bewundere ich Augustinus unermesslich.

Di Blasi: Wir erleben derzeit eine Renaissance apokalyptischer und gnostischer Glaubenspartikel und verschwörungsmythisches Querdenkertum. In Ihrem Buch lokalisieren Sie verstreute «Götterrückstände» im Ozean der Seelen und vergleichen diese mit Plastikmüll. Können Sie das ausführen?

Sloterdijk: Religionen sind nicht vollständig biologisch abbaubar, was ja sonst für irgendwelche Rückstände als wünschenswert angesehen wird. Es bleibt von ihnen nach ihrem Verfall immer etwas übrig. Wir wissen aus der vergangenen Mythologie, dass die basalen Schemata, in denen die Menschen die Welt erzählerisch oder bildlich auslegen, nie ganz verschwinden, doch zeigt sich regelmässig, dass die Felder innerhalb des Mythos mit anderen Figuren neu aufgefüllt werden, wenn eine ältere Gestalt verbraucht oder unplausibel geworden ist. Ich sehe heute in der zeitgenössischen Massenkultur einen riesigen Austauschvorgang, wobei die Mythensammler auf der Müllhalde der Seele herumgehen und aus Bruchstücken und aus Treibgut auf dem Strom zerfallener Überlieferungen neue Basteleien zusammenfügen.

Di Blasi: Überrascht Sie der enorme aktuelle Ausbruch des Glaubens an Verschwörungsmythen oder haben Sie mit so etwas eigentlich immer gerechnet?

Sloterdijk: Ich war eher überrascht über das relative Vernünftigwerden, das von den 70er- und 80er-Jahren an über der westlichen Welt sich auszubreiten schien. Ich glaube, dass die Verrücktheit, die wir heute beobachten, eher eine Rückkehr zu einer dunklen Normalität impliziert. Es war ja fast immer so, dass eine grosse Anzahl von Menschen hochkultureller Zeiten ihr Unbehagen am In-der-Welt-Sein in düsteren Mythologien, apokalyptischen Tonarten und in triumphalen Untergangshoffnungen zum Ausdruck gebracht haben.

Di Blasi: Wir erleben zurzeit dramatische gesellschaftliche Spaltungstendenzen. Was kann Ihrer Meinung nach in pandemischen, postsäkularen Gesellschaften noch sozialer Kitt sein?

Sloterdijk: Bei uns in der westlichen Welt sind das vor allem die Grossmedien Geld und Sprache. Zunächst einmal hält uns das Geld zusammen, von dem die einen viel und die anderen wenig haben. Es ist wenigstens so etwas wie ein gemeinsamer Code, auch wenn sich die Vielhabenden und die Wenighabenden voneinander immer weiter wegzubewegen scheinen. Die Hoffnung, dass Umverteilung eine gewisse Entspannung bringt, hat uns noch nicht ganz verlassen. Und solange diese Spaltungen nicht völlig unüberbrückbar werden, sind auch die Konflikte nicht völlig unheilbar. Die gemeinsame Sprache ist der Anfang der Überbrückung.

Das Podcastgespräch findest du hier

Peter Sloterdijk © Antonia Jacobsen/Suhrkamp Verlag

9 Kommentare zu „«Man hatte immer das Gefühl, dass es nach oben hin weitergeht»“

  1. César Eduardo Tamayo Rojas

    Mr. Peter Sloterdijk …. has generated in my life a gain of mobility, his writing in his books and his-sphairikos-thinking is a demonic territory ….
    I am completely grateful to be the recipient of your letters. his books have transformed my territory into a new Mephistophelian space … the medium that offers me the possibility of unearthing true treasures.

  2. Brigitte Schläppi

    Auch wenn ich nicht Alles verstehe, oder sehr wenig weiss über die Zusammenhänge der zitierten Personen, so bleibt dies: die letzten Sätze vom Geld und der Sprache. Eine Schlussfolgerung die ein Ganzes auf zwei gut verständliche Worte herunterrastert und erklärt, das muss mal einer nachmachen können! Auch mir begegnen diese Mythen im Freundeskreis. Etwas hilflos versuche ich jeweils das Thema zu meiden. Es könnte zum Bruch mit Freunden führen – z.B. die Impffrage. Brigitte Schläppi (72)

  3. Die Engländer haben ja für die Himmelsmetapher eine Extravokabel namens „heaven“ – im Gegensatz zum physikalischen Himmel „sky“. Im Deutschen gibt es für beides nur das eine Wort „Himmel“ – was eine klare Unterscheidung zwischen beiden ziemlich erschwert.
    Was Herr Sloterdijk mit „Urgewölbe“ umschreibt, ist ja nichts anderes als eine Vorstellung über einen Bereich im „heaven“, wo Ideale, Werte, Sehnsüchte und Ängste ihre Heimat haben. Wohin beispielsweise auch die Nächstenliebe – mit der Vorstellung einer Person namens Jesus Christus – als Uridee des Christentums aufgefahren ist, um dortselbst einen festen Platz einzunehmen.
    Ähnlich ist es mit allen anderen biblischen Metaphern, deren Bedeutung aber nicht beliebig interpretierbar ist.

  4. „… wenn zwischen der Sphäre des Glaubens und der Sphäre der Kunst eine tiefere Resonanz entdeckt wird.“ Der Begriff der Kunst ist heute sehr unscharf geworden und vermutlich ist mit dieser Aussage auch „die Musik“ gemeint. Wobei auch hier zu fragen wäre, bei welcher Art von Musik diese tiefere Resonanz erreicht wird und ob dies nicht von Individuum zu Individuum verschieden ist.

  5. Sloterdijk ist ja eine Philosophiemaschine, eine sprachliche Tinguely-Skulptur, die losrattert, wenn angeschubst, und wie bei Tinguely steht man gebannt und ist verzaubert. Johanna hat diesen Welterklärungsapparat ganz schön auf Touren gebracht. Das Interview ist die reine Freude und liefert als Bonusmaterial jede Menge Denkimpulse.

    Das ist es übrigens, was mich an RefLab begeistert: Es ist in der Einöde konfektionierter Spiritualität ein kostbarer Ort der Intellektualität.

    1. Der Unterschied zum Himmel im Englischen durch SKY und HEAVEN ist für mich seit langem hilfreich. Durch diesen Unterschied erschloss sich mir die Abhängigkeit von ZEIT und BEWUSSTSEIN voneinander. Der biblische terminus technicus „das Reich Gottes ist mitten unter uns“ bekommt konkrete Realität.

    2. Sloterdijk eine sprachliche Tinguely-Skulptur? 😀 Aber nicht die aus Schrott mit der Fähigkeit, sich selbst zu zerlegen und schön dabei auszusehen? Die Sloterdijks zeigten sich gegenüber dem „Zürcher Religionslabor“ – wie Peter und Beatrice S. das RefLab in unserer Email-Korrespondenz tauften – spontan aufgeschlossen. Lief alles ganz angenehm und unkompliziert.

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