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Lasst uns wenigstens trauern…

Der Mitgliederschwund geschieht jedenfalls nicht schleichend. Nachdem eine gewisse Selbstverständlichkeit der Kirchenmitgliedschaft vor 30 Jahren weggefallen ist, dürfte als Nächstes die staatliche Anerkennung, die Steuern juristischer Personen und das Parochialsystem – dieses engmaschige Filialnetz aus lauter Hauptgeschäftsstellen – auf der Kippe stehen. Fusionen werden gewisse Härten abfedern und der Pfarrmangel wird auf der Personalseite grosse Entlassungsprogramme verhindern. Aber eine Reformierte Landeskirche, die einen Grossteil der religiösen Sozialisierung und Gesinnung vertritt, wird es nicht mehr geben.

Nicht bremsen und auch nicht leugnen

Man kann diese Entwicklung nicht ernsthaft bremsen und auch nicht mehr leugnen. Diese Message ist mittlerweile überall angekommen. Damit stehen wir vor der seltsamen Aufgabe, den institutionellen Niedergang selbst theologisch reflektieren zu müssen. Dabei scheinen mir drei Deutungslinien besonders prominent zu sein:

Der Weckruf

Der Weckruf ist eine uralte, unter ihren Anhänger:innen als besonders fromm geltende Option: Warum wurde der Tempel zerstört? Weil der König XY nicht auf Gott gehört hat. Weshalb kommt die Landeskirche an ihr Ende? Weil die Pfarrpersonen nicht auf Gottes Wort, sondern auf den Zeitgeist vertrauen.

Die Idee ist verlockend einfach und beruhigend. Demografische Entwicklungen, mentale Säkularisierungsphänomene oder der Rückgang institutioneller Organisationsformen generell müssen nicht soziologisch, philosophisch oder politisch ergründet werden. All dies wird letztendlich in einer moralischen Frage aufgelöst: Habt ihr Gott mehr gehorcht als den Menschen?

Die Rückbesinnung

Die Rückbesinnung geht von der richtigen Beobachtung aus, dass die kirchengeschichtlichen Sternstunden selten in Gestalt einer machtvollen, reichen und abgesicherten Kirche erlebt worden sind. Gerade die mächtige Institution ist heute besonders peinlich: Der Nepotismus unter den Renaissance-Päpsten, die Verfolgung der Täufer:innen oder die Deutschen Christen.

Wenn die Rückbesinnung dazu dient, Mut zu fassen gegen den Augenschein und auf das zu vertrauen, was wir noch nicht sehen, ist nichts dagegen einzuwenden. Wo sie aber zum Programm einer auf ihren USP setzenden Kleinkirche wird, schüttet sie das Kind mit dem Bad aus.

Die Selbstrelativierung

Die Selbstrelativierungsstrategie tröstet sich über den Mitgliederschwund und den institutionellen Bedeutungsverlust hinweg, indem sie die kirchlichen Kernanliegen unter säkularen Bedingungen erfüllt glaubt: Die Menschenrechte, die Klimabewegung, das Schulsystem oder die Sozialhilfe werden als zeitgemässe Formen der Gottebenbildlichkeit, der Bewahrung der Schöpfung, der reformatorisch geliebten individuellen Freiheit und Mündigkeit und der Nächstenliebe gelabelt. Dabei wird gerne vergessen, dass Jesu Reich zwar in dieser Welt anbrechen soll, sein Reich aber nicht von dieser Welt ist.

Keine Strategie

Ich habe selbst keine vierte Strategie anzubieten. Und ich möchte das auch nicht. Ich glaube nämlich, dass wir noch gar nicht am Punkt sind, an dem wir eine neue Idee haben können. Kübler-Ross hat fünf Trauerphasen beschrieben, die Sterbende durchmachen:

Leugnen, Wut, Verhandeln, Depression und Akzeptanz.

Leugnen

Viele haben das Problem lange geleugnet. Die Austrittszahlen würden irgendwann von selbst stagnieren, neue Aufbrüche würden zukünftiges Wachstum bescheren oder das Internet werde dem Glauben zum globalen Durchbruch und den Institutionen zu neuem Leben verhelfen. Es ist wie mit dem Klimawandel. Wir wissen jetzt alle, dass die Entwicklung nicht einfach stoppt – und im Fall der Kirche sogar unumkehrbar ist. Mit Leugnen sind wir durch.

Wut

Wütend waren und sind viele auf diejenigen, die nicht kommen. Sie kommen nicht zum Suppentag, nicht zu der Kirchgemeindeversammlung, letztens sogar nicht einmal mehr zur Christnachtfeier. Sie sind wütend, weil das kirchliche Engagement für sozial schwächere Menschen und die eigene, intellektuell selbstkritische Haltung nicht mehr wahrgenommen und geschätzt werden. Es gibt viel Wut, wenn die Aktivmitglieder über «die Kirchendistanzierten» sprechen. Wut haben wir hoffentlich bald durch.

Verhandeln

Und am Verhandeln sind wir auch ständig. An allen Fronten. Wir handeln Staatsverträge aus, fusionieren, gründen kirchliche Vereine mit professionellem Personal, das nach neusten sozialarbeiterischen Standards und psychologischem Fachwissen das übernimmt, was einst Helfen und Zuhören war. Wir strampeln uns echt ab. Oft ohne den gewünschten Effekt. Aber verhandeln können wir.

Trauer

Was ich bis jetzt aber viel zu wenig spüre, ist echte Trauer. Ich meine nicht Angst und auch keine Vogel-Strauss-Taktik. Die Trauer, die ich meine, überfällt einen erst, wenn man wirklich begriffen hat, dass der Untergang – oder die Komplettveränderung – unausweichlich kommt. Totsicher wird es unsere Landeskirche nicht mehr so geben, dass wir sie wieder erkennen würden. Es wäre nur natürlich, darüber auch Trauer zu empfinden.

Ich bin traurig

Sie war ein Erfolgsmodell, das den Kantönligeist der Schweiz, die flache Regierungsform unserer Demokratie und die lokalen und regionalen Eigenheiten sehr gut integrieren konnte. Sie hat über Generationen kulturelles Wissen tradiert, grosse Debatten über Werte lokal erlebbar gemacht und viel für die Integrationsfähigkeit unserer Gesellschaft geleistet.

Ich bin in ihr religiös sozialisiert worden. Glauben habe ich dort gefunden. Und Menschen getroffen, denen ich in der Schule, im Verein oder in der Freizeit sonst nie begegnet wäre. Sie hat meine Grosseltern beerdigt und meine Kinder getauft. In ihr habe ich gelernt, über meinen Glauben nachzudenken. Sie hat mich nie eingesperrt, gedrängt oder verpflichtet – und gerade darum fühle ich mich ihr so verbunden. Natürlich steht dabei nicht der christliche Glaube insgesamt auf dem Spiel. Aber den gibt es ja nie abstrakt oder als philosophisches Aussagesystem, sondern vermittelt durch das Leben von einzelnen Kirchen. Und ja, es macht mich traurig, dass es «meine» Kirche nicht mehr geben wird.

Trauerzeit

Ich glaube, ohne Trauerzeit wird es keine echte Akzeptanz geben. Die einen bleiben wütend, die anderen verhandeln weiter und beide mokieren sich über die letzten Irren, die noch immer die Augen vor allem verschliessen. Sie wirken dann so, als ob sie es akzeptiert hätten. Im Kopf geht das leicht. Auch ich kann das. Im Kopf. Aber es befreit mich nicht. Es ist keine echte Akzeptanz, keine wirkliche Hingabe. Tatsächlich dienen mir die Diskussionen über mögliche Veränderungen, Change-Prozesse oder Projekt-Ideen eher als Ablenkung. Es schadet nicht. Aber es hilft auch nicht. Es ist wie Sport bei Eheproblemen.

Aber damit das Neue kommt – besser: damit wir selbst Teil des Neuen werden können –, müssen wir zuerst trauern dürfen. Manchmal muss man trauern, bis man selbst ganz leer wird. Aber daraus kann eine würdevolle Ruhe, ein weiter Raum und Luft zum Atmen entstehen.

 

Foto von cottonbro von Pexels

11 Kommentare zu „Lasst uns wenigstens trauern…“

  1. Lieber Stephan
    Danke für deine anregenden Gedanken!
    Eine kleine Ergänzung vielleicht: Es ist auch die Kirche, in der Du und ich unseren Lebensunterhalt verdienen…
    Ich mach mir als Pfarrer angesichts des Pfarrmangels keine Sorgen, dass ich in dieser Kirche nicht pensioniert werden sollte (geht auch bei mir noch rund 20 Jahre); Arbeit wird es hier wohl immer geben, aber zu welchen Konditionen?
    Ist das dann noch eine Institution bzw. Organisation in und für die ich arbeiten und mich engagieren kann?
    Unser alter Dekan hat mal gesagt, er würde sich in Zukunft um zwei Dinge als Pfarrer Sorgen machen:
    1.: Dass wir von „Clowns“ regiert würden.
    2.: Dass er um seine theologisch ach so mündigen Mitglieder zu bespassen, als Gandalf verkleidet im Wald Naturrituale durchführen müsste…“
    Beides bedenkenswerte Punkte…aber das nur am Rande…
    Die Landeskirche verändert sich: aber zu was und wohin und können wir das steuern? Auf was müssen wir verzichten und wo sind die Grenzen?
    Du hast recht: alles hat und braucht seine Zeit, auch die Trauer. Aber bitte nicht zu lange…ich höre schon seit vielen Jahren das Lamento von älteren Dienstkollegen (ja, primär Männer!) über die goldenen alten Zeiten der Landeskirche und dass damals der „Pfarrer“ noch etwas gegolten hat… sind und sollten wir nicht darüber hinweg sein? Ich persönlich bin ganz froh, nicht immer für alles ganz „ernst“ genommen zu werden und für alles zuständig zu sein oder den Kopf hinhalten zu müssen… Für mich birgt der „Niedergang“ der alten „Landeskirche“ grosse Chancen, aber eben auch Gefahren in sich…
    Aber kurz und bündig: Trauer okay, aber bitte nicht zu lange!

    1. Lieber Roland,
      danke für deine Antwort! Du hast natürlich völlig Recht: Um das Bedauern der EIGENEN Relevanz darf es nicht schon wieder gehen… Aber hat nicht dieses Klagen gerade die Wahrnehmung für das getrübt, was wirklich ein Verlust ist?
      Lieber Gruss!
      Stephan

      1. Lieber Stephan
        Da geh‘ ich mit dir einig!
        Aber was ist denn deiner Meinung nach der Verlust, abgesehen von der eigenen Nostalgie?
        Auf was können wir gerne verzichten und auf was nicht?
        Auf die bürgerliche Staatskirche, die moralisierend ihre Schäfchen überwacht, kann ich gut verzichten…viele aber unserer gemäss Sinusstudie treue Mitglieder nicht…die „trauern“ hier so richtig… der Kern unserer Landeskirche bleibt sehr konservativ, auch wenn er (mit)schrumpft…
        Gruss
        Roland

        1. Lieber Roland! Wir werden uns wohl kaum aussuchen können, worauf wir verzichten werden. Mich schmerzt Folgendes besonders:
          – Gemeinden mit heterogenen Mitgliedern
          – Grundversorgung für alle und überall
          – Mindeststandards an historisch-kritischem Wissen, intellektuelle Redlichkeit
          – Allgemeinbildung in einer breiten Bevölkerungsschicht
          – Kirchenchöre
          – Das Pfarrhaus
          – und mein Lohn 🙂

  2. Lieber Stefan,
    ich spüre sowas seit langem, hätte es aber nie so knackig sagen können.
    Ein ‚Symptom‘ des Sterbeprozesses von etwas Altem zeigt sich mir in ganz Banalem: Stichwort ‚Bürokratisierung des Einzelpfarramts‘. Als Teilzeiterin ohne Sekretariat verbrate ich die Hälfte meiner Arbeitszeit mit Administrativem und dem Aufrechterhalten der Struktur innerhalb derer ich dann noch so ein bisschen Theologie und Seelsorge betreiben darf. Wie oft finde ich mich nächtens am Schreibtisch wieder, Predigt schreibend, nachdem ich tagsüber in drei fruchtlosen Sitzungen war, Kopierpapier besorgt, Zählerstand am Kopierer abgelesen und in eine Datenbank eingetragen, Lieder vom letzten Monat zwecks Tantiemenabrechnung an irgendeine Institution gemeldet habe. Dann sollten noch die Mutationen für den Kirchenboten gemacht werden, Organisten für das Sommerhalbjahr gesucht und der Schaukasten und die Webseite mit neusten Infos gefüttert werden.
    Das ist tatsächlich nur eine Randerscheinung von dem was Du beschreibst, aber ich frage mich manchmal, wem oder was ich diene? Halte ich damit eine Struktur aufrecht die eh schon auf der Palliativstation liegt und die Gemeinde kriegt nur noch das, was halt am Ende des Tages von meiner Arbeitskraft und Kreativität noch übrig ist?
    Burnout wird oft falsch verstanden: Viele meinen, es kommt von ‚zu viel‘ an Arbeit. Ich glaub‘ nicht dass das stimmt – Überdrussgefühle (und später halt ‚Burnout‘) stellen sich unter anderem ein, wenn der Sinn des Tuns angezweifelt wird und sich die Lust am Tun in immer wiederkehrenden Leerläufen erschöpft.

    1. Danke, liebe Sonja! Das ist sehr plastisch beschrieben! Ich fühle mit. Und mit Menschen, die wie du fragen, wem oder was (!) sie noch dienen, bin ich besonders gerne Kirche 😉 Herzlich!
      Stephan

  3. Holger Pyka hat in dem Zusammenhang von «palliativer Ekklesiologie» gesprochen (https://kirchengeschichten.blogspot.com/2020/06/austherapiert-pladoyer-fur-eine.html). Aber jeder Abschied ist ja auch ein Neuanfang, das erzählen wir an jeder Abdankung. Deshalb habe ich Hoffnung auf eine Wandlung. Die Kirche mit ihrem dogmatischen Gerüst wird nicht mehr zu halten sein, aber eine Kirche, welche die Fragen und Bedürfnisse der Menschen nach Sinnstiftung, Transzendenzerfahrung, liebender Begleitung ernst nimmt, wird Zukunft haben. In welcher Form auch immer. Wir sind wohl noch stärker als vor 500 Jahren in einer Zeit des Umbruchs. Und hier ein «Fenster zum Himmel» zu öffnen, ist unsere Herausforderung.

  4. Lieber Stefan
    Spannender Text!
    Frage: Diese drei prominenten Deutungslinen, sind das deine Deutungen oder von wo stammen die?

    Mit lieben Grüssen
    Christian

    1. Danke, lieber Christian! Diese Deutungslinien habe ich aus den mir bekannten Statements und Standpunkten versucht systematisch wiederzugeben. Lieber Gruss!

  5. Lieber Stephan,
    danke für Deine anregenden Gedanken! Es wäre spannend, wenn Du bei Gelegenheit noch eine theologische Reflexion anhängen könntest, inwiefern diese Entwicklung ein Licht auf Themen in der Dogmatik wirft, so etwa das Wirken des heiligen Geistes, die Soteriologie usw.
    Schönes Wochenende!
    Jean-Marc

  6. Lieber Herr Jütte
    Bemerkenswerter Beitrag! Und ich finde es gut, dass dieses Thema angesprochen wird. Bis jetzt war ich mir ja nicht so sicher, ob diese durch und durch reale Zukunft der Kirche auch «in» der Kirche bzw. unter der kirchlichen Käseglocke realisiert wird – bis jetzt schien es mir so, als würde sie tüchtig verdrängt … (ich kenne Leute, die immer noch nicht kapieren, was da auf unsere Landeskirche zukommt).
    Nur etwas Kleines stört mich: das Wort «Kantönligeist». Gemeint ist offenbar Föderalismus. Der ist aber nicht synonym mit Kantönligeist. Kantönligeist ist ein übersteigerter, bauchnabelorientierter, egoistischer Föderalismus. Aber das scheint mir im Zusammenhang, in dem das Wort gebraucht wird, gar nicht gemeint zu sein, steht es doch neben positiv zu verstehenden Feststellungen wie «flache Regierungsform» (auch kein wirklich geglückter Terminus – gemeint offenbar Regierungsform mit flachen Hierarchien) und «Demokratie». Der Kontext ist also Föderalismus at its best.
    Beste Grüsse, Christoph Landolt.

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