Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 6 Minuten

IV Eine Einladung zur Klage

»Viele berichten gegenwärtig, ihnen fehle die Energie. Sie fühlen sich, als überziehe eine Art Mehltau ihre Wahrnehmungen, sie sind auf eine unbestimmte Weise müde und träge. Sie haben den Eindruck, nicht mehr zu schaffen, was sie eigentlich schaffen müssten oder was sie gern tun würden.« (Hartmut Rosa, in einem Interview auf Zeit-Online)

 

Eine merkwürdig verrückte Zeit

Wir leben in einer verrückten Zeit.

Wahrscheinlich hat keiner, der am vergangenen Silvester schon leicht beschwipst auf das neue Jahr angestossen hat, damit gerechnet, dass unsere Welt demnächst von einer Pandemie in den Würgegriff genommen wird.

Die Jahreszahl 2020 wird uns wohl lebenslang als Datum einer globalen Zäsur in Erinnerung bleiben – das hoffe ich jedenfalls, denn das würde wenigstens bedeuten, dass die Coronakrise nicht in naher Zukunft von einer noch denkwürdigeren Katastrophe überboten werden wird.

Die gegenwärtige Situation reicht allerdings auch längstens aus, unsere Lebenswelt gehörig durcheinander zu bringen und viele individuelle Notlagen hervorzurufen. Denn nicht nur »die Wirtschaft« und »die Gesellschaft« als kollektive Systeme werden von den Folgen der Pandemie und der selbstauferlegten Beschränkungen der Mobilität, Gewerbefreiheit und Geselligkeit in Mitleidenschaft gezogen – im Leben eines jeden Menschen wirken sich die pandemiebedingten Umstellungen und Entbehrungen auf verschiedene Weise aus und fordern ihren eigenen Preis.

Sicher: Manche spüren von einer Krise herzlich wenig. Sie erfreuen sich bester Gesundheit, arbeiten in sicheren Berufen, geniessen den Zugewinn an Familienzeit, vermissen höchstens das unbeschwerte Partyleben – oder sie gehören vielleicht sogar zu den Gewinnern der Krise. Es sei ihnen gegönnt.

Aber auch bei vielen Menschen, die zu keiner Covid-19-Risikogruppe gehören und sich um ihre Zukunft eigentlich wenig Sorgen machen müssen, stellt sich so langsam die schmerzliche Gewissheit ein, dass dieses Virus nicht nur ins Immunsystem einzelner, sondern in unser aller Lebenskraft und Zusammenleben folgenschwer eingreift.

Resonante Weltbeziehungen und die Coronakrise

Vielleicht eignet sich die Resonanztheorie des bekannten Soziologen Hartmut Rosa besonders gut, diese Folgen in Worte zu fassen. Deren Grundeinsicht ist ebenso einfach wie einleuchtend: ein gutes, gelungenes, im besten Fall glückliches Leben findet in »Resonanz« statt (so auch der Titel des bahnbrechenden Buches von Rosa) – in der Erfahrung also, dass wir zu uns selbst, zu unserem Körper und unseren Gefühlen, zu anderen Mitmenschen, aber auch zur Umwelt, zum Material unserer Arbeit, zur Kunst und Literatur usw. in lebhaften Wechselbeziehungen stehen. Im Hintergrund dieser These steht die kulturkritische Beobachtung, dass die moderne Konsum- und Leistungsgesellschaft eine Vielzahl an resonanten Beziehungen zerstört bzw. in einen Verwertungszusammenhang stellt und gerade damit zum Verstummen bringt. Es kommt dann zu menschlichen »Entfremdungserfahrungen«, zu Störungen unserer Beziehungen zur Welt auf allen Ebenen.

Nun macht es zunächst den Eindruck, als könnte man die Coronakrise im Namen der Entschleunigung einer getriebenen und resonanzverarmten Gesellschaft als unfreiwillige Segnung preisen.

Ein näherer Blick macht aber klar, dass unsere pandemiebedingte Ausnahmesituation zwar viele ökonomische und soziale Systeme gewaltsam heruntergefahren hat – dass diese erzwungene »Ruhe« aber gerade nicht mit einem Gewinn an Resonanz einhergeht.

Vielschichtige Entfremdungserfahrungen

Das liegt natürlich an den besonderen Umständen dieser Zeit, welche zahlreiche spezifische Entfremdungsmomente hervorrufen. Die Masken, die wir in der Öffentlichkeit tragen, erschweren die fundamentalste Resonanzerfahrung des Menschen – den Austauschprozess zwischen Subjekt und Welt durch das Ein- und Ausatmen der Luft. Die virale Bedrohung macht die Luft überdies selbst zum fraglichen Gut, zur potenziellen Gefahrenquelle gerade für Angehörige der Risikogruppen:

Überall könnte das unsichtbare Virus lauern, jeder Atemzug könnte das Virus in mich hineintragen.

Das Abdecken weiter Teile des Gesichts führt dann auch zum weitgehenden Erlöschen der Mimik im öffentlichen Raum. Mitmenschen im Zug, im Supermarkt oder im Wartezimmer werden zu gesichtlosen, ausdruckslosen Wesen. Die vielfältigen nonverbalen Interaktionen mit Fremden und Bekannten, das unwillkürliche Erwidern eines Lächelns, das »Lesen« eines fremden Blickes, geht in der Anonymität der Vermummten unter. Und neben mancherlei Bemühungen um demonstrative Freundlichkeit im Angesicht aller Widrigkeiten macht sich doch auch ein Argwohn, ein Misstrauen im gegenseitigen Umgang bemerkbar.

Die Regelungen zum »social distancing« sorgen dafür, dass solche Distanzerfahrungen auch nicht durch körperliche Nähe kompensiert werden können. Überhaupt stehen zwischenmenschliche Berührungen in Zeiten der Pandemie unter Generalverdacht – jeder könnte ja des anderen Todesbote werden.

Es ist noch nicht ausgemacht, was diese taktilen Defizite mit dem Zusammenleben und der psychischen Gesundheit einer Gesellschaft macht.

Hartmut Rosa stellt jedenfalls eine auffallende Abnahme der »sozialen Energie« fest und diskutiert die Möglichkeit eines »gemeinschaftlichen Burnouts«.

Den Mut zur Klage finden

Ohne nun den Untergang der Menschheit (oder der Menschlichkeit) herbeireden zu wollen und auszublenden, was in dieser Zeit auch an Zeichen der Solidarität und Empathie sichtbar wurde:

Die vergangenen Monate haben vielen Menschen einiges abverlangt und das Zusammenleben in manchen Bereichen empfindlich gestört. Das einmal ausdrücklich festzuhalten und, ja, zu betrauern, gehört zu einem Leben in der Freiheit, auch einmal unglücklich zu sein – wie es diese Blogserie reflektiert hat.

In einem früheren Beitrag habe ich die Übung der Klage zur Sprache gebracht, die in den biblischen Psalmen eindrücklich dokumentiert ist. Greg Boyd, ein befreundeter Pastor aus den USA, hat mich in dieser Hinsicht zur Nachahmung inspiriert: In einem kürzlichen Gottesdienst haben verschiedene Mitglieder seiner Gemeinde öffentlich in Worte gefasst, was sie in Zeiten der Pandemiekrise vermissen und woran sie leiden. In einer Predigt zum Thema »Klage von A bis Z« hat Boyd dann in herzzerreissender Ehrlichkeit von eigenen Notsituationen und Entbehrungen berichtet und dazu aufgerufen, der Klage bewusst Raum zu geben.

Ich möchte hier bewusst den Anfang machen mit einem Punkt, der mich in den letzten Monaten umtreibt:

Ich beklage die durch die Coronakrise vertiefte Fragmentierung der Gesellschaft, die Entfremdungen und Verwerfungen bis hinein in Familien und Freundschaften in meinem Umfeld.

Natürlich wurde schon vor der Pandemie vielerorts über den Zerfall der Öffentlichkeit in verschiedene Subkulturen, Bubbles und Interessengemeinschaften berichtet und die Frage gestellt, was denn unsere Gesellschaft in Zukunft noch einen wird. Gegenwärtig kann ich etwa auf meinem Facebook-Feed live und in Farbe beobachten, wie sich meine Facebook-Freunde gegenseitig als Covidioten und Schlafschafe, als Nazis und Naivlinge, als hirntote Verschwörungstheoretiker und manipulierte Merkelkinder beschimpfen. Dabei weiss ich persönlich von Leuten, die im August in Berlin zur Demonstration waren, die weder dumm noch rechts sind und ganz sicher die Nazi-Keule nicht verdient haben. Und natürlich kenne ich eine Menge Leute, welche das Coronavirus als ernsthafte Bedrohung ernstnehmen und sich in keiner Weise als gutgläubige Schafe oder staatshörige Jasager (dis-)qualifizieren. Warum finden Menschen (auch und gerade Christen) nicht über Meinungsverschiedenheiten und Milieugrenzen hinweg doch noch zueinander? Warum fällt es mir selbst so schwer, Verständnis oder wenigstens so etwas wie Gnade für Menschen aufzubringen, welche ganz anders ticken?

Und du?

So, der Anfang ist gemacht. Ich lade alle Leser*innen ein, ihre eigene pandemiebedingte Klage als Kommentar zu posten…

Alle Beiträge zu «Die Freiheit zum Unglücklichsein»

3 Kommentare zu „IV Eine Einladung zur Klage“

      1. Gut und prägnant geschrieben. Endlich sagts mal wer!
        Ja, was macht es mir uns, das einander nicht sehen, einander nicht fühlen?
        Wenn was uns tröstet verboten wird…?

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