Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 6 Minuten

Hart an der Schmerzgrenze

Derzeit überfluten uns auf sozialen Netzwerken Bilder und Videos aus Belarus. Junge Erwachsene, offensichtlich eingeschüchtert und mit Zeichen von Gewalt am Körper, versprechen, nie mehr gegen die Regierung zu protestieren.

Friedliche Demonstrant*innen werden von der Polizei angegriffen, zu Boden gedrückt und abtransportiert. Heimliche Aufnahmen zeigen, wie hinter Polizeiposten Menschen verprügelt werden.

Autoplay sorgt dafür, dass solche Videos auch ohne Klick starten. Und manche Bilder brennen sich ein – und gehen nie wieder weg.

Auf Twitter berichtete kürzlich die Autorin einer Reportage über sogenannte „Incels“, wie stark die Recherche über diese Frauenhasser sie herausgefordert und an ihre Grenzen gebracht hatte: „Es gab Tage, an denen ich nicht mehr lachen konnte, an denen die Bilder aus dem Forum so präsent in meinem Kopf waren, dass ich darüber nachgedacht habe, mir psychologische Hilfe zu nehmen“, schreibt Isabell Beer. Ich kann ihr nachfühlen. Manches bleibt hängen, beschäftigt einen mehr, als man dachte. Manchmal jahrelang. Muss man sich das antun?

Wozu Menschen fähig sind

Auch Texte können diese Wirkung haben: Einer, den ich nie mehr vergesse, war ein Bericht im Tagi-Magi. Es ging um die Angestellten, die für Facebook und andere soziale Netzwerke Videos auf illegale Inhalte sichten wie (Kinder-)pornografie, Gewalt, auch an Tieren. Ich habe den Artikel mehr oder weniger überflogen, weil mich interessierte, wie diese Menschen mit den verstörenden Inhalten umgehen. Im Nachhinein bereute ich es, denn leider wurden einige Inhalte beschrieben. Zwar sehr kurz – doch das Wissen, wozu Menschen skrupellos fähig sind, reicht, da braucht es keine Details. Im Gegenteil: Wird etwas nur angedeutet, braut sich das Gehirn erst recht Schlimmes zusammen. Nicht allen geht es so.

Doch wie schafft man als empathischer Mensch heute den Spagat, auf dem Laufenden zu sein, und sich gleichzeitig vor allzu belastenden Dingen zu schützen?

Zwischen Information und Voyeurismus

Ich finde es wichtig, Phänomene unserer Zeit und Gesellschaft zu kennen. Auch die dunklen Seiten, zum Beispiel das, was in diesen Tagen in Belarus geschieht. Aber die Details? Wie genau Frauen in Indien täglich Opfer von brutalsten Vergewaltigungen werden? Wie Eltern ihre kleinen Kinder zu Tode hungern, oder noch Schlimmeres? Was mit Menschen in syrischen Gefängnissen geschieht? Oder wie Frauen in Südostasien und anderswo verkauft und missbraucht werden?

Eigentlich ist das schon fast unerträglich, zu wissen, dass das geschieht. Und das wie geht mir definitiv zu nahe. Vieles lese ich schon gar nicht mehr. Was als Clickbait bei Abgestumpfteren oder Hartgesottenen funktionieren mag, versuche ich vorsorglich rauszufiltern.

Zudem ist die Grenze schmal, dass Menschen mit den Beschreibungen dessen, was ihnen angetan wurde, nochmals zum Opfer werden – und zwar von voyeuristischen Leser*innen und Zuschauer*innen.

Seien es die Jesiden, die vom IS in Käfige gesteckt und lebendig verbrannt wurden. Oder die nur halb bekleidete Frau, die dieser Tage im Hof einer belarussischen Polizeistation bedrängt wurde (wie bereits der Titel des Videos effekthascherisch ankündigt). Ich scrolle weg.

Klicks haben Macht

Und manchmal, das ist das Perverse, werden gewisse Inhalte nur dazu produziert, Mitleid zu erregen und Klicks zu generieren. Auch wenn die Gewalt vordergründig nicht mal sichtbar ist. Dieser traurig-ironische Tweet hat wohl etwas Wahres:

Klicks sind Geld wert. Fehlen Klicks, fällt das Geld weg. Wir Internet-User*innen haben Macht. Deshalb lohnt es sich, uns damit auseinanderzusetzen, was wir anklicken und damit fördern. Was uns und anderen gut tut. Und wo ein Klick, ein View oder ein Share auch reale Konsequenzen haben könnte – positive oder negative.

Trauma durch Videos

Im Zuge der Demonstrationen gegen Polizeigewalt und Rassismus in den USA wurden Stimmen von Schwarzen laut, die darum baten, die Videos nicht weiter zu teilen. Sie sollten nicht weiter Menschen traumatisieren, die selber von rassistischer Gewalt betroffen waren oder sind. Klar – die Videos sind Beweismittel, es ist wichtig, dass sie aufgenommen wurden, sie zeigen, dass die Geschichten wahr sind. George Floyd, Philando Castile, Ahmaud Arbery:

In vielen Fällen wurde die Kamera oder das Live-Video genau aus dem Grund gestartet, um Ungerechtigkeit zu dokumentieren.

Aber man kann es auch denen glauben, die sie sich angeschaut haben, ohne dass man die Bilder selber auch noch sieht oder teilt.

Denn die Identifikation von Schwarzen mit den Opfern sorgt für erneute Traumatisierung (Buzzfeed-Artikel). Weil man das, was anderen geschehen ist, auch als Gefahr für sich selber noch stärker realisiert. Auch wenn dieses Bewusstsein rational bereits da ist: Visuell geht es nochmals auf eine tiefere Ebene.

Wohl deshalb ist die Betroffenheit bei mir selber am schlimmsten, wenn ich von Gewalt an Frauen lese. Es geht mir sehr nahe, und unweigerlich stelle ich mir am eigenen Körper vor, was ihnen angetan wurde. Auch nach Jahren vergesse ich die Interviews mit den jungen Nigerianerinnen nicht, die von Boko Haram entführt, verheiratet und missbraucht wurden. Die Magazinreportage zur tödlichen Vergewaltigung einer Frau in Indien, die international für Betroffenheit sorgte. Die drastischen Fotos einer toten Selbstmordattentäterin, die ich vor über 10 Jahren im Rahmen einer Kunstinstallation sah.

Gibt es eine Strategie gegen die Hilflosigkeit?

Das Schlimme ist die Hilflosigkeit; zu wissen, was genau in diesen Minuten irgendwo auf der Welt vor sich geht. Etwa, dass genau jetzt in Belarus Menschen, die sich für Demokratie einsetzen, gefangen und vermutlich gefoltert werden. Wozu muss ich das sehen? Wozu muss ich das wissen?

Nun: Das Wissen um die Gewalt an Frauen hat mich dazu gebracht, am Frauenstreik mitzumarschieren. Manchmal unterstütze ich Organisationen, die sich für mehr Gerechtigkeit auf der Welt einsetzen, finanziell. Und die Bilder aus Belarus haben ausgelöst, dass ich mich ans EDA und Aussenminister Ignazio Cassis gerichtet und eine E-Mail verfasst habe, mit der Forderung, schnell Sanktionen zu verhängen. Aber nicht jedesmal ist das möglich. Manchmal bleibt die quälende Hilflosigkeit zusammen mit den schlimmen Bildern hängen.

Deswegen ist inzwischen meine Strategie: 1. Ich unterscheide, ob ich mich wirklich informieren will oder ob ich bloss in die Voyeurismus-Falle tappe. 2. Ich versuche einzuschätzen, ob ich das, was ich sehen oder lesen werde, auch wirklich aushalte. Und 3. frage ich mich, ob ich aufgrund der Information etwas tun kann. Beantworte ich eine der Fragen mit „Nein“, scrolle ich weiter. Für Psychohygiene im Newskonsum.

 

Photo by Fa Barboza on Unsplash

1 Kommentar zu „Hart an der Schmerzgrenze“

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