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 Lesedauer: 4 Minuten

Grenzerfahrungen und neue Anfänge

Die letzten Sonnenstrahlen an der Bergflanke waren verschwunden, die Nacht brach langsam ins Tal. Die Vogelstimmen waren verstummt und eigentlich wollte ich seit einer Stunde nur noch schlafen. Es kostete mich viel, jetzt nochmals meine Energiereserven anzuzapfen. Ich verwünschte den Wetterbericht, der vor wenigen Minuten für eine Planänderung gesorgt hatte.

Nach fast 30 km Bergwandern und einem Tag voller Glücksmomente hatten wir einen schönen, versteckten Platz zum Übernachten gefunden, eine flache Stelle am obersten Rand einer Weide. Es duftete nach wilder Minze und Bärlauch. Zuvor hatten wir uns am Brunnen eines Stalls gewaschen und unseren Wasservorrat aufgefüllt. Nach dem Abendessen warfen wir noch einen Blick auf den Wetterradar, um den nächsten Morgen zu planen. Am Mittag wollten wir wieder im Tal sein, denn irgendwann sollte eine Regenfront ankommen. Doch nun kündigte sich überraschend bereits für mitten in der Nacht Regen an. Und so bauten wir im Dämmerlicht mit Hilfe unserer Wanderstöcke und einer leichten Blache ein Notzelt auf.

Ich konnte mich kaum mehr auf den Beinen halten. Wenn es in der Nacht wirklich regnen würde, könnten wir auch einfach hinunter zum leeren Stall rennen und fänden dort Unterschlupf, dachte ich. Doch ich war so müde, dass ich nicht diskutieren mochte, und meiner Freundin gab die Herausforderung einen regelrechten Energieschub. So folgte ich stumm ihren Anweisungen und gab mir Mühe, meine Unlust nicht zu zeigen. Eine Grenzerfahrung.

Enttäuscht von mir selber

Über Auffahrt habe ich gleich einige solcher Grenzerfahrungen gemacht. Die beschriebene habe ich am besten gemeistert. Bei einer anderen bin ich phänomenal gescheitert: Am Sonntagmorgen vor einem weiteren Outdoor-Ausflug wollte ich Brot für Sandwiches einkaufen, doch wegen einer Post-Panne war wieder mal keine Zahlung mit Postkarte möglich. Ich hatte keine andere Zahlungsmöglichkeit dabei, und so war ich frustriert und verhielt mich der Verkäuferin gegenüber total unhöflich. Auf dem Weg zurück ins Haus schämte ich mich und kämpfte mit den Tränen. Wie peinlich, als angehende Pfarrerin so die Nerven zu verlieren!

Was tust du in solchen Situationen? Ich redete mir ein, dass ich ja auch nur ein Mensch bin. Dass jede*r mal einen schlechten Moment hat. Wahrscheinlich war ich immer noch erschöpft von den drei Tagen Trekking und genervt, weil mein Zeitplan durcheinander gekommen war. So analysierte und erklärte ich mir mein Verhalten. Aber das schlechte Gefühl verschwand nicht. Innerlich war ich enttäuscht von mir selber.

Normalerweise habe ich Mühe mit der biblischen Ansicht, dass jeder Mensch ein Sünder sei. Ich sehe lieber das Gute in jedem. Doch in Momenten, in denen es mir schwer fällt, gnädig mit mir selber zu sein, erkenne ich meine Schwäche. Der Apostel Paulus setzt der Grundnatur des Menschen, die zum Schlechten neige, die unendliche Vergebung Gottes entgegen. Doch wenn ich andere Menschen mit meinem Verhalten verletzt habe, ist es ein schwacher Trost, dass ich bei Gott Vergebung finde. Mit dieser Gewissheit allein kann ich in solchen Situationen wenig anfangen.

Die Kraft des Neuanfangs

Schlussendlich ging ich mit Bargeld zurück in den Laden. Unterwegs atmete ich ein paarmal tief ein und aus und sprach bei jedem Atemzug ein Kurzgebet: „Du in mir – ich in dir.“ Diese Worte begleiten mich im Alltag oft, gerade in schwierigen Situationen. Ich spüre darin die Gegenwart Gottes, die mich trägt. Die Kraft der Auferstehung, der Vergebung, des Neuanfangs – immer wieder. Ich entschuldigte mich bei der Verkäuferin.

Auch die Nacht in den Bergen ging übrigens gut aus. Es regnete nicht. Und als ich am frühen Morgen meine nackten Füsse aus dem Schlafsack und in die Wiese streckte, zwitscherten die Vögel. Ich schlüpfte unter dem Notzelt hervor und blinzelte in die aufgehende Sonne, erholt und glücklich. Ein neuer Anfang.

Photo by Reed Naliboff on Unsplash

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