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 Lesedauer: 5 Minuten

„Fürs Läbe“?

„Sicher ist jetzt schon, dass der Bundesrat den Wert eines alten Lebens (…) massiv überzeichnet hat.“ Diese Aussage spricht die Corona-Massnahmen der letzten Monate an. Und der Autor dieses Satzes ist Daniel Regli, OK-Präsident des „Marsch fürs Läbe“. Macht stutzig? Ja. Macht hässig? Auch.

Kurz zum Hintergrund: Regli hat die Vereinigung „Bürgerforum Schweiz“ gegründet und organisiert Kundgebungen (what else?) gegen die Corona-Massnahmen des Bundes. Er kommt nach einer Kosten-Nutzen-Abwägung zum Schluss, dass der Bundesrat den „finanziellen Wert eines alten Menschen“ vielfach überhöhe. Als Argument dient Regli ein Entscheid des Bundesgerichts, das einer 70-jährigen Frau die Übernahme eines sehr teuren Medikaments durch die Krankenkasse absprach.

Heuchlerische Doppelmoral

Nun ist es eine Sache, kontrovers über Maskenpflicht, Lockdown etc. zu diskutieren. Mit einer Kosten-Nutzen-Abwägung zu argumentieren, bei der auf der „Nutzen“-Seite Menschenleben in die Waagschale geworfen werden, war jedoch schon im März unterste Schublade und ist es auch heute noch. Es stellt das Lebensrecht und damit die Würde aller Menschen infrage, die zu einer der Risikogruppen gehören. Sei es, weil sie besonders viel Kontakt mit anderen Menschen haben, aufgrund von bestehenden Erkrankungen oder (vor allem) aufgrund ihres Alters.

Dabei argumentiert Abtreibungsgegner und „Lebensschützer“ Regli mit Eigenverantwortung und Demokratie. Das ist nicht nur ironisch, sondern regelrecht heuchlerisch: Was er einer schwangeren Frau an Urteilsvermögen und Verantwortungsbewusstsein nicht zutraut, soll also hier gelten. Das „Bürgerforum“ empfiehlt die Unterzeichnung einer Online-Petition zur Aufhebung der Maskenpflicht. Im Text zur Petition heisst es u.a.: „Die Menschen sind prinzipiell verantwortungsvoll und werden in der jeweiligen Situation auch richtig und verantwortungsbewusst handeln. Haben Sie Vertrauen!“

Verhältnis von Solidarität und Demokratie

Wer Maske tragen will, soll das tun, so Regli und andere Maskengegner*innen. Aber die Massnahmen dürften in einem demokratischen Staat nicht zum Zwang werden. Fürs Christentum ein noch zentralerer Wert als die Demokratie ist jedoch die Solidarität. Danach funktioniert auch die Maskenpflicht. Eigenverantwortung zieht hier nicht. Mit den gängigen „Community Masks“ und Einwegmasken schützen wir nicht in erster Linie uns selber, sondern uns gegenseitig. Besonders diejenigen, bei denen eine Erkrankung potenziell schlimm verlaufen könnte. „In gegenseitiger Rücksichtnahme“, wie es in der Präambel der Schweizer Bundesverfassung steht, weil „die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen“.

Die Maskengegner*innen finden, dass alles, was auf dem Spiel stehe, „etwas zusätzliche Lebenszeit“ sei. Regli, ehemaliger Stadtzürcher SVP-Gemeinderat, schreibt u.a.: „Es war (…) klar, dass die Massnahmen des Bundesrates dazu dienen, in erster Linie eine Zahl von alten Menschen vor einem etwas verfrühten Sterben zu bewahren.“ Doch auch die letzten Lebensjahre haben ihren Wert und ihre Bedeutung: Lebensgeschichten werden aufgearbeitet und abgerundet. Die neuere Forschung zeigt auch, dass Menschen bis ins hohe Alter dazulernen und sich entwickeln. Es sind nicht einfach Jahre, in denen man auf den Tod wartet. Und auch wer dement ist, körperlich eingeschränkt oder krank, hat das Recht, im öffentlichen Raum vor einer Ansteckung geschützt zu werden.

Über Daniel Reglis Doppelmoral berichteten bereits diverse Medien, zuletzt auch das evangelikale Nachrichtenmagazin „idea Spektrum“. Die dort abgedruckten Leserbriefe zeigen, dass Regli selbst in christlich-freikirchlichen Kreisen, die unter dem Stichwort „Lebensschutz“ Abtreibungen ablehnen, Entrüstung erntet. Er selber besucht gemäss Recherchen der NZZ und kath.ch übrigens die Freikirche ICF Zürich. Nun droht auch die Schweizerische Evangelische Allianz, ein Dachverband vor allem freikirchlicher Christ*innen, sich vom „Marsch fürs Läbe“ zurückzuziehen, wenn Regli als OK-Präsident nicht zurücktritt. Da Regli schon monatelang aktiv ist, stellt sich die Frage, warum man sich nicht früher distanziert hat. [1]

Maskengegner*innen pinkeln Kirchen ans Bein

Ein Fünftel der Schweizer Bevölkerung ist 65 oder älter. 5% sind über 80. Durch die demografische Entwicklung – längere Lebenserwartung, tiefere Kinderzahl – wächst der Anteil der älteren Menschen in der Gesellschaft. Viele davon zwar sind noch kerngesund und haben, individuell betrachtet, vermutlich kein höheres Risiko in Bezug auf Corona als Jüngere. Doch es gibt auch immer mehr Hochaltrige. Die Bedeutung alter Menschen in der Gesellschaft und der achtsame, wertschätzende Umgang mit ihnen sind ein Thema, mit dem wir uns beschäftigen sollten.

Kirchen gehören zu den wichtigsten Akteuren in diesem Bereich. Sie setzen einen Gegenpol zur Leistungsgesellschaft, in der man sich Anerkennung verdienen muss und Schwäche etwas ist, wofür man sich schämen muss. Um nur einige Handlungsfelder der Kirchen, ihrer Fachpersonen und Freiwilligen (zu denen notabene selber viele Senior*innen gehören) zu nennen:

  • Besuchsdienst
  • Seniorenangebote und Veranstaltungen
  • Seelsorge in Spitälern, Alters- und Pflegeheimen
  • finanzielle Unterstützung für ausserkirchliche Angebote und Institutionen
  • Forschung und Engagement in Palliative Care
  • thematische Zusammenarbeit im Bereich „Alter“, z.B. eine gemeinsame Kampagne mit der katholischen Kirche und der Pro Senectute zum Thema „Hochaltrigkeit“
  • Caring Communities als wichtiges Thema der reformierten Landeskirchen

All dem pinkelt Regli ans Bein, wenn er, bekannt als „gläubiger Christ“, alten und kranken Menschen das Lebensrecht abspricht. Wenn schon „fürs Läbe“, dann nicht nur für das ungeborene.

 

[1] Stellungnahme der SEA auf Anfrage der Autorin: „Die polarisierende Art von Daniel Regli war in der Trägerschaft des ‚Marsch fürs Läbe‘ schon immer ein Diskussionsthema. Mit seinen Aktivitäten im ‚Bürgerforum Schweiz‘, auf welche die SEA durch die mediale Berichterstattung wie das Interview in ‚idea Spektrum‘ in den letzten Wochen aufmerksam wurde, war für uns aber eine Grenze erreicht. Daniel Reglis widersprüchliche Haltung zum Lebensschutz gefährdet aus unserer Sicht das im Verein ‚Marsch fürs Läbe‘ gemeinsam vertretene Anliegen. Angesichts dieses Glaubwürdigkeitsproblems hat die Leitung der SEA entsprechend gehandelt und Reglis Rücktritt als Präsident des ‚Marsch fürs Läbe‘ gefordert.“

Photo by Glen Hodson on Unsplash

18 Kommentare zu „„Fürs Läbe“?“

  1. Das ist wirklich irre…
    Ich finde es allerdings schon schräg, dass der Marsch von einem MANN organisiert wird – der noch nicht mal im Ansatz nachvollziehen kann, wie es sich anfühlt, schwanger zu sein, geschweige denn mit einem schwerbehinderten Kind oder nach einer Vergewaltigung. Das ist schon fast anmaßend. Und ähnlich gelagert wie bei den Märschen gegen die Ehe für alle, die ja m.W. auch von Heterosexuellen, völlig Unbetroffenen organisiert wurden.

  2. Erschreckend! Einen Punkt möchte ich aber anmahnen: es wird über die SEA gemutmasst (warum Distanzierung nicht früher), ohne dass ersichtlich ist, ob da eine Nachfrage gemacht wurde. Das sollte die Autorin nachholen und ergänzen.

  3. Hat es Reflab in gefühlt 1000 Blogartikeln und Podcasts geschafft, sich auch nur 1x ernsthaft mit der Abtreibungsthematik zu beschäftigen? Meines Wissen nicht. Es gibt nur die inszenierte Entrüstung, wenn mal eine Personalie (ob sie nun Läderach oder Regli heisst) Gelegenheit bietet, die Lebensrechts-Bewegung an den Pranger zu stellen. Ich teile die Kritik an den Aussagen von Herr Regli. Wünschenswert wäre, das Reflab in dieser Sache nicht nur polemisiert, denn der Einsatz für den Schutz des Lebens – geboren und ungeboren, ist ein zutiefst christliches Anliegen.

    1. Evelyne Baumberger

      Lieber Peter, danke für den Kommentar. Ich nehme gerne kurz Stellung dazu, obwohl es im Artikel v.a. um Menschen am Lebensende gehen sollte.

      Erstens ist meine Entrüstung mitnichten inszeniert. Sondern wie hier von alten und vulnerablen Menschen gesprochen wird, macht mich wirklich betroffen. Zweitens glaube ich, mit dem Verweis auf die Leser*innen-Briefe bei Idea, die Distanzierung der SEA von Regli sowie die direkte Anbindung meines Artikels an die Aussagen von Daniel Regli als Einzelperson und sein „Bürgerforum“, genügend zwischen der Lebensrechts-Bewegung als ganzer und der Person Regli und seinen Anhänger*innen differenziert zu haben. Ich verstehe die Motivation der „Marsch fürs Läbe“-Bewegung durchaus. Jedoch finde ich Stil, Argumentation und Rhetorik total abschreckend. Auch ist die Frage um den Beginn des Lebens, des Menschseins und des Personseins für mich theologisch und ethisch bisher nicht eindeutig klärbar, sodass ich hier auf keine Diskussion eingehen kann oder will. Ich bin aber der Meinung, dass sich Frauen unter gewissen Voraussetzungen bzw. in den ersten Wochen einer Schwangerschaft frei und legal für oder gegen einen Abbruch entscheiden können müssen.
      Ich hoffe, damit deinen Polemik-Vorwurf entkräftet zu haben, denn das wäre nicht meine Art. Liebe Grüsse!

  4. Ich verstehe schlicht und ergreifend nicht, wie sie das Thema des Maskentragens mit all den andern wichtigen Zusatzthemen zusammenmixen zu einem Einheitsbrei. Bei den Masken geht es primär um die Evidenz der Wirksamkeit und nur um Das. Es geht darum, dass z.Bsp. Abstand halten viel effektiver schützen würde als irgendwelche Masken vor das Gesicht zu platzieren. Sie machen aus dieser Frage eine Ethische! obwohl deren Wirksamkeit, wissenschaftlich breit abgestützt umstritten ist.
    Ich vermische jetzt auch! Indem ich ein anderes ihrer Themen aufnehme…
    Ob die totale Isolation von den „ Schützenswerten alten Menschen“ überhaupt erwünscht ist, interessiert sie nicht! Haben sie mit diesen Menschen gesprochen, ob sie ihre Kinder, Enkel, Freunde nicht mehr sehen, spüren wollen? Ob sie ihre Leben im Alleingang aufarbeiten oder abschliessen wollen ! wie sie das ja beschreiben?
    Ich erlebe in der Praxis das Gegenteil. Aber da ja Alles vermixt wird, kann sich daraus gar keine echtes Finden nach guten Lösungen ergeben. Wenn Masken, Abtreibung, persönliche Vorlieben, Antipathien, politische Agenden, Frauenrechte, Kirchenstrategische Modelle und die eigene Suche nach Antworten und und und alles mit einer geballten Ladung , Frust gewürzt als Eintopf serviert wird, wer hat Lust , sich mit dieser toxischen Mischung ernsthaft oder besser noch Lösungsorientiert zu befassen?

  5. Unabhängig davon, wie jemand zum Thema Abtreibung steht, scheint mir die Gleichsetzung einer absichtlichen Termination einer Schwangerschaft mit der Ablehnung einer Maskenpflicht an den Haaren herbeigezogen. Hier von Heuchelei zu sprechen spricht für mich dafür, dass es Evelyne in diesem Blogeintrag nicht gelungen ist, sich auf Daniel Reglis Weltsicht einzulassen. Dafür muss Sie diese nicht teilen. Aber für das Urteil der Heuchelei gilt für mich einzig und allein, ob eine Aktion mit der Weltsicht einer Person übereinstimmt oder nicht. Heuchlerisch wäre z.B., wenn Lebensrechtler Abtreibungen bei eigenen Familienmitgliedern Befürworten würden.

    1. Evelyne Baumberger

      Lieber Severin, danke für den Kommentar. Regli (und damit mein Artikel) bezieht sich ja nicht nur auf Maskenpflicht, sondern auf diverse Massnahmen zur Prävention von Corona v.a. bei Angehörigen von Risikogruppen, wo die Krankheit mit höherer Wahrscheinlichkeit tödlich endet. Und deine Differenzierung zum „Heuchelei“-Begriff finde ich interessant, aber nicht schlüssig: Inwiefern passen Zitate wie folgendes mit einer „Lebensschutz“-Perspektive überein? „…die ganze Bevölkerung mit drastischen und schädlichen Massnahmen zu belegen, um einer kleinen Anzahl alter, vorerkrankter Menschen ein bisschen mehr Lebenszeit zu verschaffen.“ Auf eine solche Weltsicht kann und will ich mich nicht einlassen, sorry.

      1. Liebe Evelyne, vielen Dank für Deine Antwort. Die Diskussion um die Lebensrechtsbewegung und deren Gegner hinsichtlich der Corona-Massnahmen finde ich durchaus berechtigt. Von Abtreibungsbefürwortern wird darauf hingewiesen, dass ein Abtreibungsverbot einen unnötigen Eingriff in die körperliche Integrität der Frau darstellt. Umgekehrt sehen Abtreibungsgegner in einer Abtreibung einen unzulässigen Übergriff auf die körperliche Unversehrtheit eines Embryos. Ich will hier nicht haarspalterisch sein, aber es scheint mir, dass, wenn man mit gleichen Ellen misst, eingeräumt werden müsste, dass die verschiedenen Corona-Massnahmen einen massiven Eingriff in die körperliche Integrität der Menschen darstellen, wenn auch befristet. Inkongruent scheint vor diesem Hintergrund also nicht nur Reglos Weltsicht, sondern auch die von Abtreibungsbefürwortern.
        Schlussendlich halte ich eine solche Diskussion jedoch nicht für zielführend, da es sich bei der Übertragung einer Krankheit und bei der Termination einer Schwangerschaft einfach um sehr verschiedene Dinge handelt. Vielleicht ist die „Seamless Garment“ Philosophie des verstorbenen Kardinals Joseph Bernardin der kohärenteste Versuch, solch ethisch unterschiedliche Fragen zu verknüpfen und eine konsistente Ethik des Lebens zu schaffen. Sehr empfehlen kann ich auch Robert Spaemanns „Personen: Versuch über den Unterschied zwischen ‚etwas‘ und ‚jemand'“.

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