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Ein neues Jahr und keine Vorsätze

Wenn man um Neujahr etwas zum Lachen braucht, muss man nicht weit suchen. Es reicht, am 31. Dezember eine Runde durch den Wald zu joggen. Mich erheitert es jedes Mal. An diesem Tag hat man den Wald für sich. Die Leute mit den Neujahrsvorsätzen kommen erst morgen, wenn ich verkatert im Bett liege und frühestens um 11:00 zur Kaffeemaschine tapse.

Neujahrsvorsätze finde ich etwas vom Dümmsten, was es gibt.

Okay, das war vielleicht etwas gemein. Aber glaubt wirklich jemand, dass man am 01. Januar auf den Glockenschlag eine neue Person werden, sich selbst neu erfinden kann?

Ein denkbar schlechter Startpunkt

Ich halte nichts davon, am 01. Januar mit neuen Gewohnheiten beginnen zu wollen. Es ist Winter, zumindest meteorologisch gesehen, es ist dunkel, der Stress von Weihnachten liegt in den Knochen und ganz abgesehen davon:

Warum braucht es ein Datum, um mit etwas zu beginnen?

Ist das nicht dieselbe Haltung, die uns als Kinder denken liess: Dieses Schuljahr schreibe ich besonders schön und gerade auf das weisse, leere Papier ins Heft? Das hat doch auch nur auf den ersten zwei Linien funktioniert.

Mit Gewohnheiten verhält es sich ähnlich: Wenn wir aus dem Nichts etwas erschaffen wollen, bietet eine weisse Seite zwar unendliche Optionen. Gleichzeitig kann sie masslos überfordern. Da gibt es nichts, woran wir uns halten könnten, kein Gerüst, keine bereits existierenden Routinen, in die wir unser Verhalten integrieren könnten. So haben wir nicht nur eine denkbar schlechte Startposition, wir begraben uns gleich selbst unter unseren Ansprüchen. Ab jetzt muss es funktionieren, ab jetzt muss alles anders werden. Nach einer durchzechten Nacht mit wenig Schlaf und einem Monat, in dem man mehr Fett und Zucker gegessen hat als in den letzten elf, was für eine der Situation angepasste, selbstfürsorgliche Idee!

Keine inklusive Sache

Mich macht die Idee der Neujahrsvorsätze ehrlich gesagt auch etwas wütend: Warum soll man sich jedes Jahr noch mehr verbessern und optimieren? Ich halte das für einen allzu typischen Auswuchs unserer neoliberal geprägten, auf Leistung versessenen Gesellschaft: Unser Wert als Menschen definiert sich über das Tun, nicht über das Sein. Es ist egal, ob sich Routinen und der eigene Körper stimmig anfühlen, man soll trotzdem überlegen, ob man nicht jeden Morgen um fünf Uhr aufstehen, meditieren und Zitronenwasser trinken will.

Damit koppeln wir unseren Selbstwert an unsere Leistungs- und Funktionsfähigkeit.

Aber was ist denn mit Menschen, die das physisch und psychisch nicht auf die Reihe kriegen? Die in betreuten Einrichtungen leben, morgens gebadet werden müssen, von der Spitex betreut werden oder für die es ein Kampf ist, morgens überhaupt aus dem Bett zu kommen? Wo bleibt der Respekt vor ineffizienter, aber völlig legitimer Menschlichkeit? Uns Menschen macht sehr viel mehr aus als unsere Leistungsfähigkeit. Und was für ein Bild vermitteln wir denjenigen, die links und rechts von diesem schmalen Leistungsgrat stürzen? Es ist unfair und grausam, alle, die nicht fähig sind, bei diesem Rennen mitzuhalten, als «gescheiterte» Existenzen zu verurteilen und ihr Lebens als «wertlos» abzutun.

Worum geht es genau?

Wenn man etwas im Leben angehen will, würde ich zuerst unterscheiden, worum es bei den Veränderungen geht: Will man weniger Espressi am Tag trinken? Morgens nicht mehr durch die Wohnung rennen und sich fragen, ob man alles eingepackt hat? Mehr Bewegung oder Zeit an der frischen Luft in den Alltag integrieren? Oder geht es darum, unliebsame Verhaltensmuster oder gar Charaktereigenschaften unter die Lupe zu nehmen?

Handelt es sich um komplexere Angelegenheiten wie die eigene Persönlichkeit, halte ich es für lieblos und unmöglich, sich selbst wie schmutzige Wäsche zu behandeln und sich «reinigen», aka funktionstüchtig machen zu wollen. Da braucht es tiefgreifendere Prozesse als den Waschgangentscheid «Jetzt werde ich anders.» Kleine Sachen lassen sich hingegen jederzeit anpacken. Aber auch dafür muss man nicht auf einen ersten Januar warten.

Wenn der Moment, in dem man etwas anpacken will, effektiv zum Datum 01. Januar passt, wunderbar! Ansonsten: Finger weg, man frustriert sich nur selbst.

Der erste Januar ist ein denkbar schlechter Tag, wenn man das Gefühl hat, man müsste etwas tun, bloss weil alle etwas tun.

Wenn man spürt, dass einem die fünf Espressi am Tag nicht guttun, kann man das auch an einem gewöhnlichen, völlig verregneten Mittwoch Ende Januar angehen.

Ein Plädoyer für Experimente

Ich persönlich stehe sehr auf die ökumenische Fastenzeit. Diese Zeit hilft mir Jahr für Jahr, in mich hineinzuspüren und mich ehrlich zu fragen, was guttut. Es sind sieben Wochen, in denen man experimentieren kann. In einem Jahr habe ich keinen Kaffee mehr getrunken. Das werde ich nie wieder tun, aber dank dieser Erfahrung weiss ich, dass mir zu viel Koffein nicht bekommt. Seitdem trinke ich zu 90% Decaf-Kaffee. Nicht, weil ich mich zwangsoptimieren wollte, sondern weil ich an meinem Körper gespürt habe, wie viel ruhiger und ausgeglichener ich ohne Koffein bin. In einem anderen Jahr habe ich auf Instagram verzichtet und danach die App für lange Zeit gelöscht, weil meine Psyche so viel besser dran war. Dieses Jahr reizt es mich, auf Alkohol zu verzichten.

Worauf ich hinauswill: Lasst euch nicht unter Druck setzen, wenn sich jetzt alle um euch herum zwangsoptimieren.

Seht den 01. Januar als Experimentstart, wenn ihr denn eins starten wollt. Vielleicht sind Ende Januar aber auch einige Freund:innen froh, wenn sie entspannte Menschen im Umfeld haben, bei denen sie sich deprimiert auf die Couch kuscheln oder unambitionierte, durchschnittliche, aber glückliche drei Runden im Park joggen können.

Photo by Tim Mossholder on Unsplash

1 Kommentar zu „Ein neues Jahr und keine Vorsätze“

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