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 Lesedauer: 5 Minuten

Die zweite Welle der Angst

Die Angst wird wieder stärker, das Misstrauen steigt. Mir geht es jedenfalls so. Es irritiert mich, wenn ich höre, dass die meisten öV-Pendler*innen zu Hauptverkehrszeiten ohne Mundschutz unterwegs sind. Und ich bin dankbar, dass ich nach wie vor im Home Office arbeiten und Zugfahrten weitgehend vermeiden kann.

Wir leben mit Risiken. Jeden Tag, auch ausserhalb Corona. Das extremste, welches mir einfällt: Alle zwei, drei Minuten fährt im Bahnhof Stadelhofen ein Zug ein. Die Perrons dort sind stellenweise schmal und in Stosszeiten ziemlich voll. Nüchtern betrachtet, ein unglaubliches Risiko: Wenn wir dort am Feierabend auf den Zug warten, vertrauen wir alle darauf, dass uns niemand auf die Geleise stösst.

Fight or flight – or trust

Wir brauchen dieses Sicherheitsgefühl im Alltag. Wenn es doch einmal gebrochen wird, nennen wir diese Ereignisse nicht umsonst „Terror“. „Terror“ ist das lateinische Wort für „Schrecken“. Das Gefühl des Schreckens ist mehr als Angst: ein Schock, ein Trauma, Verlust der Sicherheit. Ohne das Grundvertrauen in unsere Umgebung wären wir ständig im Überlebensmodus, in der „fight or flight“-Bereitschaft.

„Unser Leben ist nun einmal ohne unser Zutun so geschaffen, daß es auf andere Weise nicht gelebt werden kann, als daß der eine Mensch sich dem anderen in (…) Vertrauen ausliefert und mehr oder weniger seines eigenen Lebens in die Hand des anderen legt.“

Das schrieb der dänische Philosoph und Theologe Knud Løgstrup (1905-1985). Wir können nur existieren, indem wir uns einander gegenseitig „ausliefern“ und dafür das Leben der anderen „in Obhut“ nehmen. Unausgesprochen gehen wir davon aus, dass das auf Gegenseitigkeit beruht. Im Alltag werde das Vertrauen in kleinere Elemente heruntergebrochen, so Løgstrup weiter, in Konventionen, Höflichkeit und Sitten: Wenn ich die Hand zum Gruss ausstrecke, gehe ich davon aus, dass der Gruss erwidert wird. Reagiert das Gegenüber nicht, verunsichert mich das und verletzt mein Vertrauen.

Ausgerechnet dieses banale Beispiel ist momentan ins Gegenteil verkehrt – wir haben uns daran gewöhnt, dass Handschläge tabu sind. Die Konvention greift nicht mehr, denn es ist eine Extremsituation eingetreten. Es steht mehr auf dem Spiel als normal, und was in der jetzigen Zeit „höflich“ ist, ist nicht eindeutig: Für die einen heisst es, einen Mundschutz zu tragen, für die anderen reicht es, mit Husten oder anderen Krankheitssymptomen nicht aus dem Haus zu gehen.

Ist die Angst irrational?

Am Anfang der Krise widerstanden wir dem Drang zum Hamstern und der (irrationalen) Angst, dass für uns kein WC-Papier und keine Pasta übrig bleiben könnte. Jetzt besteht die Angst darin, dass uns die anderen Raum wegnehmen, unsere Gesundheit aufs Spiel setzen.

„Das Vertrauen ist das Grundlegende – und das Mißtrauen entsteht aus dem Mangel oder Fehlen an Vertrauen.“

Was Løgstrup beschreibt, ist in diesem Jahr nun also zum zweiten Mal spürbar. Manche fürchten, dass die neue Normalität täuscht. Die zweite Welle der Angst ist hier –unabhängig von einer zweiten Krankheitswelle. Ist auch diese Angst irrational? Einerseits ist bei aktuell rund um 50 Neuansteckungen pro Tag die Chance verschwindend klein, dass man tatsächlich jemandem nahe kommt, der oder die infiziert ist. Andererseits würde es mich nicht wundern, wenn die Zahlen wieder steigen. Der Aussenbereich des Pubs in meinem Quartier war an den letzten Abenden voll, und am Bahnhof begrüssen sich junge Männer mit Handschlag.

„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“, lautet ein hässliches Sprichwort. Mein innerer Kontrolleur plädiert für eine Maskenpflicht im öV zu Stosszeiten, wo sich der Abstand nicht einhalten lässt. Doch würde das wirklich etwas nützen? Wer garantiert mir, dass die Person mir gegenüber ihre Hände gewaschen oder desinfiziert hat, bevor sie den Mundschutz anzog? Dass sie die Maske nicht schon zum 7. Mal trägt? Und dass Stoffmasken nach jedem Tragen ausgekocht werden? Wir wissen, dass uns die Bequemlichkeit manchmal selber einholt und unterstellen sie deswegen dem anderen. Würde uns eine Maskenpflicht also in falscher Sicherheit wiegen? Ich weiss es nicht.

Gratwanderung zwischen Schutz und Selbständigkeit

In den vergangenen Monaten haben wir damit gelebt, dass unsere Freiheit eingeschränkt war. Wir haben uns an neue Regeln gewöhnt, wenn auch manche dagegen protestiert haben. Jeder Mensch muss seine/ihre Selbständigkeit behalten können – bei Achtung der Selbständigkeit des anderen. Das ist ein Paradigma der Demokratie. Løgstrup schreibt:

„Verantwortung für den anderen zu tragen, kann niemals darin bestehen, die Verantwortung des anderen zu übernehmen.“

Welche Gratwanderung das aber in einer Ausnahmesituation ist, und dass es nicht einen einzigen „richtigen“ Weg zwischen Ausgangssperren und Eigenverantwortung gibt, konnten wir konkret in den letzten Monaten beobachten. Und so wird es auch in den nächsten Monaten noch sein – zwischen Maskenpflicht, Home Office und Restaurantbesuch.

Für mich persönlich zeigt sich in diesen Tagen, was viele schon vor Wochen geschrieben haben: Es ist nicht ganz einfach, wieder zur Normalität zurückzukehren und Vertrauen zurückzugewinnen. Wie es mit dem Vertrauen immer ist: Es braucht eine Basis, damit es nach und nach wachsen kann. Und das wiederum braucht Zeit.

Zitate aus „Die ethische Forderung“ von Knud Løgstrup, Tübingen 1989. 

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