Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 6 Minuten

Die Parallelwelt von ASMR [1]: «Das ist pure Liebe, nicht wahr?»

Vor ein paar Jahren schaute ich in Berlin im Chaos Computer Club (CCC) vorbei. Einer der Leiter führte mich herum. Im Untergeschoss war es schummrig, es roch nach kalter Pizza und schwarz gekleidete Typen waren in Computer versunken. Ich musste unwillkürlich an Kellerasseln denken.

Der Clubleiter bemerkte meine Verwunderung. «Das sind echte Nerds», erklärte er liebevoll wie ein Zoodirektor. «Die leben in ihren eigenen Welten, aber bei uns tun sie das immerhin nicht allein.»

Der Durchschnittsbürger verbringt inzwischen rund acht Stunden täglich online. Auch ich habe mich sukzessive dem Typus Nerd angenähert. Ich starre in den Bildschirm, ohne zu blinzeln, vergesse zwischendurch meinen Körper und zu essen, während ich surfe, schreibe, recherchiere. Mein Fühlen erscheint über Stunden hinweg reduziert auf das sanfte Streichen der Fingerkuppen über kühle Touchscreens oder das Tastaturklopfen der Finger. Auch gerade jetzt.

Einschläfernd, aber prickelnd

Das Fühlen aber hört an der Interface-Grenze nicht auf. Es migriert zunehmend in die Digitalwelt – und hier kommt ein erstaunlicher, aber vielfach unbewusst bleibender und noch wenig erforschter Effekt zum Tragen: die «Autonome sensorische Meridianreaktion» («Autonomous Sensory Meridian Response»), abgekürzt ASMR.

Bei dem Phänomen werden Parallelsinne getriggert, ähnlich wie in der Synästhesie, also dem Farbenhören oder Tönesehen. Bei ASMR ist es vor allem Flüstern, Rascheln und Knistern, das sich in eine Art von Fühlen übersetzt. Die Geräusche lösen bei den einen Beruhigung, eine leicht gehobene Stimmung und mitunter sogar wohliges Kribbeln aus, meist vom Kopfscheitel bis in den Nacken. Andere dagegen können keine Reaktion feststellen.

Minimale Geräusche, die die körperliche Nähe einer anderen Person simulieren, übertragen sich bei manchen Menschen unwillkürlich auf Gefühlszentren im Hirn. Sie fühlen sich gleichzeitig beruhigt und stimuliert.

Der verrückteste Youtube-Trend

Ich bin vor zirka zehn Jahren auf das Phänomen aufmerksam geworden. Damals gab es erste Medienberichte. ASMR galt als verrückter Youtube-Trend. Schon damals gab es Millionen Flüster- und Raschelvideos im Netz. Inzwischen hat sich ASMR etabliert. ASMR-Künstler:innen haben zum Teil mehrere Millionen Follower.

Verbesserte Aufnahmetechnologie hat zu einer enorm gesteigerten Geräuschvielfalt beigetragen. Die Grundelemente aber sind die gleichen geblieben. In vielen ASMR-Videos werden Geräusche mit den Fingernägeln erzeugt. Junge Frauen streichen mit künstlichen Fingernägeln über Tischplatten, versprühen ihr Lieblingsparfum und beschreiben den Duft oder erzeugen mit Haarbürsten, Badeschwämmen oder Schminksets Raschel- und Reibegeräusche. Dazu flüstern sie einlullend oder summen. Auch das Durchblättern von Büchern oder Zeitschriften gehört zum ASMR-Geräuschrepertoire oder das Spielen mit Muscheln.

ASMR-isten ist es egal, wenn sei belächelt werden. Was zählt ist, was Tingles erzeugt, Kribbeln. Und so kann selbst das nebensächlichste Rauschen zur Offenbarung werden.

Häufig werden zur Sounderzeugung auch Mikrofone gestreichelt, beklopft oder bepinselt. Mitunter werden sie sogar mit Rasierschaum beschmiert, wie von diesem ASMR-Influencer hier (RAW Ultra Fast Close Beard Shave Sounds 🪒ASMR💈, 370 000 Aufrufe). Neben relaxten Stimmen sind beruhigende Handbewegungen und leichte Berührungen am Kopf, wie zum Beispiel beim Kämmen oder Haarewaschen, Zutaten der ASMR-Videos. Als Zuhörer:in und Zuschauer:in trägt man am besten Kopfhörer.

Soundfiles zum Trösten

ASMR gehört inzwischen zu den auf häuigsten gesuchten Begriffen auf Youtube. Dennoch ist die Welt von ASMR ein Paralleluniversum. Das mag daran liegen, dass die Videos so ereignis- und inhaltsarm sind wie Bildschirmschoner oder Windspiele. Sie fallen durch den Rost der Stichwort-Algorithmik. Man stösst in der Regel nur auf sie, wenn man gezielt nach ASMR sucht.

Die flüsternden ASMR-Influencer:innen werden nicht müde, einsame oder auch bloss gelangweilte Zeitgenoss:innen in eine Art von ferngesteuerter Wellnessoase zu beamen und wie mit einer Fernbedienung Kribbelduschen zu verabreichen, niedrigschwellig und überwiegend jugendfrei. Die Community lohnt es mit entzückten Oh- und Ah-Ausrufen, Komplimenten, Smileys und Herzchen.

«Du bist richtig toll, das ist so angenehm!», «Du hast eine zauberhafte Flüsterstimme» oder «Ich bin zurzeit echt im Stress und deine Videos helfen mir jedes Mal wieder zu entspannen. Deine Stimme ist soo beruhigend.»

Die ASMR-Community schwört, im Rascheluniversum besser einzuschlafen und dank der freundlich-beruhigenden Stimmen sogar quälende Ängste besser in den Griff zu bekommen.

Queen of ASMR

Als «Queen of ASMR» gilt Maria Viktorovna (2,18 Mio Abonennt:innen). Ihre Fans kennen die blonde Frau als «Gentle Whisperer». Hunderte Relax- und Einschlafvideos hat die aus Russland eingewanderte Amerikanerin seit 2011 ins Netz gestellt.

Die Filme der Werbeproduzentin sind so actionreich wie das Gleiten einer Schnecke auf der Schleimspur. Dennoch – oder deswegen – nähern sich die Klickzahlen ihrer Angebote langsam der Milliardengrenze. Maria erklärt:

«In dieser Welt des Stresses und Chaos möchte ich, dass mein Kanal deine geheime Insel der Entspannung und des Friedens ist. Ich bin hier, um dich zu trösten, um dir meine Liebe und Fürsorge zu schenken… Lass mich dir beim Einschlafen oder in unruhigen Nächten helfen, lass mich dein Freund sein und ein Trigger für deine Tingles.»

Trigger für Tingles

Maria hat im Laufe der Jahre ihr Repertoire erweitert, baut Meditiationsformen ein und setzt in ihren Videos auch Erkenntnisse der Verhaltensforschung um.

Die ASMR-Künstlerin ähnelt einer Mutter, die mit einem Säugling spricht, langsam und sanft, oder die ein Kleinkind liebevoll umsorgt und ihm vor dem Zubettgehen Gutenachtgeschichten vorliest.

«Ich bin für dich da. Wir verbringen gemeinsam Zeit und machen, was uns guttut. Ich hoffe, das gefällt dir», haucht sie ins Mikrophon. «Ich gebe uns das Gefühl, mit der anderen Person verbunden zu sein, geliebt und wertgeschätzt.» Und während Maria mit glitzernden Schminkpinseln und Haarbürsten ihre Community in den Schlummer schickt, flüstert sie: «Diese Berührung ist pure Liebe, nicht wahr?»

Über die Lauterkeit solcher Liebe kann man streiten. Erfolgreiche ASMR-Influencer:innen wie Maria Viktorovna verdienen mit ihren Videos durch Werbebanner auch Geld. Andererseits: Die Videos kann man kostenlos ansehen und -hören. Und wenn es Menschen tatsächlich hilft, mit Stress, Ängsten und Einsamkeit besser klarzukommen, sind Flüstervideos sicherlich unbedenklicher als pharmazeutische Schlafmittel oder Psychopharmaka.

Ich finde diese Welt der kleinen Geräusche faszinierend. Manche Videos sind kreativ und lustig, andere nerven und einige empfinde ich tatsächlich als hilfreich: nicht um einzuschlafen, aber um aus Gedankenkarussells herauszufinden.

Hybride Gefühle

In spätmodernen Lebens- und Arbeitswelten verbringen Menschen immer mehr Zeit mit Maschinen und weniger mit anderen Menschen. Die globale Pandemie und das mittlwerweile ins Unterbewusste übergegangenen Social Distancing haben die Tendenz verstärkt.

Durch parasoziale Beziehungen, also Beziehungen zwischen Konsument:innen und Prominenten oder fiktiven Charakteren, wird heute kompensiert, was an echten und symmetrischen Beziehungen vermisst wird.

Was passiert, wenn Grenzen von virtuellen und realen Gefühlswelten mehr und mehr verschwimmen und sich neue und hybride Gefühlslandschaften herausbilden? Verwandelt sich dann möglicherweise auch dasjenige, was wir an Beziehungen als authentisch wahrnehmen und wertschätzen? Es wird spannend, das weiter zu beobachten.

Jesus liebt dich

Fernübertragung von Gefühlen ist als kulturelles Phänomen keineswegs neu, man denke etwa an den Starkult des Kinos oder Helden der Romanliteratur. Selbst eine Formel wie «Jesus liebt dich!» setzt die Annahme der Möglichkeit einer Fernbeziehung voraus.

Auch Jesus-Liebende sind überzeugt, dass seine Liebe ihnen ganz persönlich gilt. Hier kommt allerdings im Unterschied zu ASMR der Glaube hinzu, dass es sich trotz des steilen Gefälles Gott-Mensch um eine wechselseitige, wenn nicht sogar symmetrische Liebe handelt.

Es ist kaum zu übersehen, dass Muster aus der religiösen Tradition in der virtuellen Welt in abgewandelter Form und häufig ohne erkennbaren Transzendenzbezug wiederkehren.

Im zweien Teil der Serie «Die Parallelwelt von ASMR» geht es kommende Woche um entspannende Rollenspiele.

Photo Karolina Grabowska, Pexels.

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