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 Lesedauer: 5 Minuten

Die Anmut des Bittens

Rogate, Bittet! So heisst der heutige Sonntag, nach Matthäus 7,7:

«Bittet, so wird euch gegeben.»

In der Regel verläuft dieser Mechanismus von Bitten und Geben selbstverständlich und reibungslos ab: Könntest Du bitte für mich einkaufen, ich darf nicht raus. Könntest Du mir bitte das neue Tool erklären, damit ich es anwenden kann.

Das Bitten als Beten

Es gibt aber auch Situationen, in denen unklar ist, worum ich bitte soll. Und ich nicht weiss, was mir weiterhelfen würde, wenn ich es bekäme.

Um dieser Art von Brauchen und Bitten auf die Spur zu kommen, verortet Matthäus das Bitten im Beten. Beten ist Bitten mit Gott als Adresse. Aus welchen Bestandteilen das Bitten besteht, das sich an Gott adressiert, erörtert Matthäus an einer anderen Stelle (Mt. 6, 5-8).

Ich muss nichts darstellen

Beten ist nicht Showtime. Ich muss mich nicht als selbstbewusste Person oder als wertvolle Mitarbeiterin präsentieren. Ich muss nicht über Möglichkeiten verfügen oder Rollen gut ausfüllen. Das alles ist part of the game im gesellschaftlichen Miteinander, wo es sein Recht und seinen Reiz hat. Beim Beten aber spielt es keine Rolle. Ganz einfach darum, weil bei der Selbstdarstellung gar nicht auftauchen kann, was man braucht. Und worum man bitten könnte, damit man bekommt, was einen nährt und weiterbringt. Die Darstellung im gesellschaftlichen Miteinander ist ein Spiegel-Spiel, bei dem es an den Oberflächen reflektiert, glitzert und blitzt. Für das Bitten aber muss man sich öffnen, um auf die Leere zu stossen, aus der die Bitte auftaucht.

Ich muss nichts über mich wissen

Für die Öffnung hin zur Bitte braucht es einen geschützten Raum im Abseits. Selbst derjenige, an den sich die Bitte adressiert, Gott, ist verborgen. Und auch der Beter und die Beterin sind sich selbst verborgen und vertrauen allein auf den Anderen, der ins Verborgene sieht.

Ich muss keine grossen Worte machen

In dieser Verborgenheit gibt es nichts, was ich in viele Worte fassen könnte. Das braucht es auch nicht. Es geht nicht ums Reden, es geht ums Hören. Auf das, was aus der Verborgenheit und Leere auftaucht.

Dieses Beten kommt mir vor wie eine Enteignungsstrategie: von meinem Selbstbewusstsein, von meinem Wissen und von meinem Reden. Als ob mir das alles beim Beten im Weg stünde.

«Über das Marionettentheater»

Während ich darüber nachdenke, warum das so ist und wie ich von diesem Nicht-Ort zum Bitten und Empfangen komme, fällt mir ein Text von Heinrich von Kleist ein: «Über das Marionettentheater». Weil darin ein junger Mann vorkommt, der mit erwachendem Selbstbewusstsein seine Anmut verliert. Es geht in diesem Text nicht ums Beten und Bitten, es geht um die Anmut des Menschen. Es ist genau dieser Einschuss von Fremdem, der mich lockt.

Der anmutige Tanz der Marionetten

Im Kleist-Text trifft der Erzähler auf einen begnadeten Tänzer, den er schon öfters in einem Marionettentheater getroffen hat. Er kann sich die Faszination an den Marionetten nicht erklären und fragt den Tänzer, was ihn daran interessiere.

Puppen tanzten viel schöner als Menschen, ist seine überraschende Antwort. Zwar sei die vertikale Bewegung des Puppenspielers recht einfach, und die Fäden seien jeweils nur am Schwerpunkt von Armen und Beinen der Puppen angebracht. Aber genau darum folgen die Glieder in einer fliessenden, rhythmischen Bewegung, die anmutig wirke.

Worin der Vorteil der Puppen liege, fragt der Erzähler? Sie zieren sich nicht. Zieren sei, wenn sich die Seele (vis motrix, die bewegende Kraft) an einem anderen Punkt als dem Schwerpunkt der Bewegung befinde. Wenn sich die Tänzerin nach ihrem Verfolger umdrehe, sässe ihre Seele in den Wirbeln des Kreuzes. Seit wir vom Baum der Erkenntnis gegessen hätten, gehe es nicht anders.

Und dann seien die Marionetten vom Puppenspieler gehalten. Sie müssten keine Schwerkraft überwinden, streiften den Boden nur. Während sich die Tänzer auf ihm ausruhen und von der Erschöpfung des Tanzes erholen müssten.

Verlust der Anmut

Dass in einem mechanischen Gliedermann mehr Anmut sei als in dem Bau des menschlichen Körpers, bringt beide ins Grübeln. Der Sündenfall sei das menschliche Bewusstsein, das in der natürlichen Grazie des Menschen Unordnung anrichte. Der Erzähler berichtet die Geschichte des jungen Mannes, der sich, als er sich nach dem Baden abtrocknete, zufällig im Spiegel erblickte. Das Bild erinnert ihn an die antike Statue des Jünglings, der sich einen Splitter aus dem Fuss zieht. Doch in dem Augenblick, als er sich seiner Anmut bewusst wird, verliert er seine Unschuld. Über unzählige Versuche, diese Geste zu wiederholen, verliert er alle Anmut.

Das erinnert den Tänzer an seinen Kampf mit einem Bären, gegen den er vergeblich gefochten hatte. Der Bär hatte auf keine Finten auch nur reagiert und jeden ausgeführten Stoss pariert. Anmut entstehe, wenn entweder kein Bewusstsein oder ein unendliches sei, also entweder in dem Gliedermann oder in dem Gott.

«Mithin, sagte ich ein wenig zerstreut, müßten wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen? Allerdings, antwortete er, das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt.» So endet der Text von Kleist.

Die Anmut des Bittens

Bei diesem Nicht-Ort des Betens, bei dieser Enteignungsstrategie könnte es darum gehen, dass wir beim Bitten in unserem Schwerpunkt bleiben. Und dass daraus fliesst, was wir brauchen. Weil wir es bekommen. Das wäre die Anmut des Bittens.

Heinrich von Kleist, Über das Marionettentheater

 

Photo by Andre Hunter on Unsplash

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