Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 4 Minuten

Vor der Zeit sterben

Die Angst vor dem Senizid

In der NZZ vom 24.3.20 hat Niall Ferguson einen Artikel über «Senizid» geschrieben.

«Wenn eine erhebliche Zahl westlicher Staaten … mit der durch das Virus Sars-CoV-2 … ausgelösten Pandemie weiterhin falsch umgeht, dann wird eine sehr grosse Zahl alter Menschen vor der Zeit sterben.» Sein Vorwurf richtet sich vor allem an die Regierungschefs der USA und Grossbritanniens. Sie hätten die Pandemie unverantwortlich verharmlost und durch ungenügende Massnahmen zu einer raschen Verbreitung des Virus beigetragen. Darum steige die Gefahr, dass in den überfüllten Spitälern die alten Menschen nicht mehr behandelt werden könnten. Was dazu führe, dass das Coronavirus altersdiskriminierend wirke.

Die Angst vor der Barbarei

Senizid meint den willentlich herbeigeführten Tod alter Menschen. Mehr als sein Vorwurf an die oberen Etagen scheint in diesem harten Begriff die Angst auf. Die Angst vor dem Einbruch der Barbarei in unsere humane Zivilisation. Er berichtet von Beispielen früherer Gesellschaften, in denen die Alten getötet oder ausgestossen wurden, um Platz für die Jungen zu schaffen. Vermutlich, weil es nicht für alle zu essen und zu leben gab.

Wie weit reicht unsere Humanität?

Ich verstehe diese Angst. Es ist eine unglaubliche Errungenschaft unserer Zivilisation, dass es – unabhängig von Alter, Wert oder Status – um jede und jeden Einzelnen geht. Wer will die schon verlieren.

Ferguson könnte aber auch daran denken, dass wir diese Errungenschaft nur teilweise leben; nämlich bei uns. In den Flüchtlingslagern in Griechenland, in Syrien, im Libanon, in Afrika – überall dort geht es uns nicht um jede und jeden Einzelnen.

Und man könnte darüber hinaus befürchten, dass welche auf die Idee kommen könnten, die Probleme von Überalterung und Überbevölkerung dadurch zu lösen, dass die Alten gar nicht mehr zählen; sich selbst überlassen blieben.

Das Schreckbild der Stunde – die überfüllten Spitäler, in denen Ärzte entscheiden müssen, wer beatmet wird und wer nicht – wäre das Zeichen nicht nur für die Corona-Pandemie, sondern auch für die Frage, ob wir unsere humanen Errungenschaften aufrechterhalten wollen und welchen Preis wir dafür zu zahlen bereit sind.

Vor der Zeit sterben

Ich begreife den Schrecken, der Ferguson bei seinen eigenen Überlegungen in die Knochen fährt. Gleichzeitig bin ich an Fergusons Ausdruck «vor der Zeit sterben» hängen geblieben. Ich verstehe schon, was er meint: Ohne die Pandemie oder mit ihrer raschen Eindämmung hätten viele der Menschen, die jetzt sterben, weitergelebt.

Wann ist die richtige Zeit zum Sterben?

Aber wenn man vor der Zeit stirbt, muss es auch eine richtige Zeit zum Sterben geben.

Wann ist die richtige Zeit zum Sterben? Und wer befindet darüber, wann die richtige Zeit zum Sterben gekommen ist?

Wir sind es jedenfalls nicht. Auch wenn wir heute, wenn es um Leben und Tod geht, über weitreichende Möglichkeiten verfügen. Wir können durch unseren Lebenswandel dazu beitragen, gesund zu bleiben. Wir können Krankheiten heilen und Leiden mildern. Aber nicht jeder, der früh stirbt, ist selbst schuld. Und es sterben Menschen trotz bester Medizin; nicht nur, wenn sie alt sind. Wenn es um Leben und Tod geht, haben wir nicht alles im Griff.

Und wann der richtige Zeitpunkt zum Sterben ist, wissen wir auch nicht. Sind die Priester, die in Bergamo gestorben sind, weil sie bei den Infizierten geblieben waren, zu früh gestorben? Ist meine Freundin, die im hohen Alter mit Exit aus dem Leben ging, zum richtigen Zeitpunkt gestorben? Ich kann das nicht entscheiden.

«Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.» (Psalm 90)

Vielleicht tut es in bedrängten und verängstigten Zeiten gut, uns vor Augen zu halten, dass wir sterben müssen. Es ist eine schlichte Tatsache. Und eine, an der wir uns sammeln können, weil sie wahr ist.

Dabei zu bleiben, dass wir – bei allem, was wir tun und vermögen – nicht über Leben und Tod verfügen können und auch nicht wissen, wann für uns die richtige Zeit zum Sterben gekommen ist. Das wäre klug, weil es uns davor schützt, alles wissen und können zu müssen.

Das Zielen auf den nicht gewussten richtigen Zeitpunkt, unter dessen Bogen das, was ist, sein kann; ohne alles zu sein.

Photo by Alain Frechette from Pexels

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

RefLab regelmässig in deiner Mailbox

RefLab-Newsletter
Podcasts, Blogs und Videos, alle 2 Wochen
Blog-Updates
nur Blogartikel, alle 2 bis 3 Tage