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 Lesedauer: 4 Minuten

Den Tod nicht fürchten

Ich bin in einer Podcast-Episode zu Michel de Montaigne über ein Zitat gestolpert: «Die Nützlichkeit des Lebens liegt nicht in seiner Länge, sondern in seiner Anwendung.» In der Nähe von Bordeaux auf Schloss Montaigne hat er sich als knapp Vierzigjähriger zurückgezogen und seine dreibändigen Essays geschrieben, die kein philosophisches System, sondern eigentliche Selbstbesinnungen darstellen. In dieser Zeit konfessioneller Kriege, der Massaker an den Hugenotten und ihrer Vertreibung, ist ihm jeder Radikalismus zuwider. Montaigne ist mehr Diplomat als Katholik. Er widmet sich ganz lebenspraktischen Themen wie Kindererziehung, Eheleben, Impotenz und den Umgang mit Trauer und dem Altern. Dabei wird seine Haltung auf die grossen existenziellen Fragen durchsichtig:

«Alle Weisheit und alle Vernunft dieser Welt, laufen letztlich darauf hinaus, uns zu lehren, dass wir den Tod nicht fürchten sollen.»

Das ist nicht einfach die Idee eines Schreibtischtäters, der viel Seneca gelesen hat. Montaigne hatte selbst fünf seiner sechs Kinder verloren, die Pest raffte grosse Teile der Stadtbevölkerung in Bordeaux dahin. Seine Zeit war dem Tod näher, als unsere. Den Tod zu tabuisieren, war gar keine Möglichkeit. Aber er darf uns nicht in Bann halten! Denn der Tod, so ist Montaigne überzeugt, gehe uns gar nichts an. «Weder wenn ihr lebt, denn dann seid ihr ja, noch wenn ihr tot seid, denn dann seid ihr nicht mehr.»

Ein Gedankenspiel

Aber stimmt das? Ich kann mir doch als Lebender vorstellen, dass ich nicht mehr sein werde, dass der Tod meine Zukunft und damit mein Ende bedeuten wird, dem ich nicht ausweichen kann. Montaignes Gedanken verstehe ich als Gedankenspiel, das uns in der Todesfurcht – eben wie ein Spiel – ablenken soll, damit wir den folgenden Satz überhaupt hören können: «Die Nützlichkeit des Lebens liegt nicht in seiner Länge, sondern in seiner Anwendung. Mancher, der kurz gelebt hat, hat lange gelebt.»

Dieser Satz kann schrecklich wirken: Er könnte den Wert eines Menschenleben auf das reduzieren, was jemand leistet, wie nützlich jemand ist, was er zustande bringt. Ich verstehe ihn aber anders. Montaigne sagt ja nicht: «Mancher, der kurz gelebt hat, hat viel (!) gelebt, erlebt, geleistet oder vollbracht», sondern «hat lange gelebt». Die Anwendung des Lebens muss er sich also als etwas denken, das Zeit gibt.

Sich Zeit geben

Das Leben kann ein Leben im Warteraum sein. Warten auf den nächsten Urlaub, den Traumprinzen, das zweite Kind, die Abzahlung der Hypothek und dann natürlich letztlich und alles begleitend: Warten auf den Tod. Im Warteraum dauert die Wartezeit lange und der Urlaub ist zu kurz, der Traumprinz enttäuschend schnell ein Frosch und das Kind bereitet Sorgen, während die Hypothek nicht kleiner werden will. Wer auf den 19. April, auf Lockerungen des Lock down, auf die Gesellschaft, in der er vor fünf Wochen noch gelebt hatte, wartet, kennt das nur zu gut.

Für manchen ist das grosse Warten auf den Tod, wenn es dann ein Ende hat, eine Erlösung. Von sich selbst. Aber es gibt auch dieses andere Leben, das Zeit gibt: Die erste Verliebtheit geniessen, ohne ein Haus kaufen zu müssen, dem Kind selbstvergessen zuschauen und so im Moment gefangen sein, dass es egal ist, ob man in Florida oder auf der eigenen Terrasse sitzt.

Eine Interpretationssache

Der Tod ist eine Interpretationssache. «Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden», betet der Psalmist. Man kann sich damit quälen. Ständig das Ende vor Augen haben, dadurch jede Entscheidung unnötig bedeutungsschwer machen und den Blick für das kleine Wichtige, das das Leben gross macht, verlieren.

Man kann aber das Leben auch anders leben: «Ja», kann man mit dem Psalmisten antworten, «der Tod kommt. Ich weiss. Das können wir nicht ändern. Darum verliere ich mich in meinem Leben, das mir geschenkt ist und freue mich daran, heute wieder erwacht zu sein.» Der Tod ist eine Zumutung. Das bleibt. Aber er kann uns nicht daran hindern, lange zu leben. «Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir lange leben. Jeden Moment.»

 

2 Kommentare zu „Den Tod nicht fürchten“

  1. Thomas Grossenbacher

    … ich denke beim Lesen an Wolfgang Amadeus Mozart, an Dietrich Bonhoeffer … und … hat da nicht ein Blogger kürzlich aus dem Psalmwort „itai bejadeka“ schon ähnliche lebenswichtige Schlüsse gezogen? Zeit, Lebenszeit ist mehr als die Ausdehnung auf einer Temporalaxe X.
    In all dem, was an Gründonnerstag bis Ostern sich ereignete, spiegelt sich solch abgründige Tiefe, und auch die Höhe und Erfüllung von Leben. „Anwendung des Lebens“ … erlebbar im Vertrauen auf die Wendung. Hoffentlich!

  2. Martin Schleiermann

    Ich finde auch, dass man schnell den Blick für die kleinen Dinge vergisst, wenn man immer nur an das Ende denkt. Allerdings ist es auch nicht schlecht, wenn man im Hinterkopf behält, dass alles ein Ende hat und wir irgendwann nicht mehr sind. Ich habe mich da bewusst mit meinem Testament beschäftigt. Wichtig ist es mir gewesen, mich dabei unterstützen zu lassen. https://notar-oyten.de/

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