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 Lesedauer: 5 Minuten

Das Gegenteil von Tinder

Seien wir ehrlich, „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ klingt in unseren Ohren manchmal ziemlich übertrieben. Denn Liebe, wie wir sie für gewöhnlich definieren, wenn wir jemandem sagen: „Ich liebe dich“, oder wie sie Eltern für ihre Kinder fühlen mögen – das kann nicht von aussen verordnet werden. Umgekehrt kann man es auch nicht ernsthaft „Nächstenliebe“ nennen, wenn jemand bloss aus Pflicht anderen Menschen Gutes tut.

Die Griechen kannten drei verschiedene Verben für „lieben“, und das hilft schon ein wenig, einzuordnen, was damit gemeint sein könnte. Aber zu dieser Unterscheidung gibt es schon viele Artikel, ich will an dieser Stelle auf eine andere, spannende Definition eingehen, die ich kürzlich in einem Aufsatz der Theologin Dorothee Sölle (1929-2003) fand. Sie bezieht sich auf Max Frisch, der Liebe definiert als „sich kein Bild von jemandem machen“. Sölle paraphrasiert: „Wer liebt, der stellt sich dem unauflösbaren Rätsel des anderen, der läßt die Wirklichkeit eines Nichtbekannten, Unerfaßten und Unerfaßbaren stehen.“ [1] Ein spannender Gedanke!

Freiheit statt Schubladen

Leider ist unser Gehirn so programmiert, dass es gerne Ordnung und möglichst wenig Überraschungen hat. Zu diesem Zweck werden Menschen, die wir kennenlernen, erst mal schubladisiert. Das hilft, ihnen angemessen zu begegnen. Und auch Leute, die wir schon länger kennen, haben gewisse Etiketts: „Der enttäuscht mich ohnehin wieder.“ – „Sie kann einfach nicht so gut mit Menschen umgehen.“ Oder auch positive: „Sie ist immer für mich da.“ Damit schaffen wir zwar Ordnung in unserem Leben und können uns darauf einstellen, was kommt, aber wie häufig liegen wir mit unseren Vorurteilen auch total daneben!?

Vor einiger Zeit lernte ich im Kontext meines Studiums einen jungen Mann kennen. Er gehörte zu den „Frommeren“, war sportlich und selbstbewusst. „Einer dieser Typen, die ganz genau wissen, was richtig und falsch ist, obwohl er mit seinen Mitte 20 noch nichts vom Leben gesehen hat“, dachte ich. Bei einem Gespräch in einer Mittagspause lernte ich ihn besser kennen. Und erfuhr, dass er aufgrund eines schweren Unfalls seinen Beruf aufgeben musste. Er war körperlich jahrelang so stark eingeschränkt, dass er auch psychisch in ein tiefes Loch fiel. Bis zum Suizidversuch, den er Gott sei Dank überlebte. Was er erzählte, berührte mich sehr, und ich schämte mich für meine Vorurteile.

Es ist ein wichtiger Aspekt von Nächstenliebe, fixe Vorstellungen und Vorurteile loszulassen und Menschen stattdessen unvoreingenommen zu begegnen. Eine hochaktuelle Definition! Nicht nach Äusserlichkeiten wie Hautfarbe, Geschlecht, Diplomen oder Kirchenzugehörigkeit zu urteilen, sondern zuzuhören, welche Geschichte jemand hat. Und auch bei Menschen, die man schon lange und gut kennt, offen zu bleiben, sich überraschen zu lassen und jemandem eine zweite Chance zu geben.

„Du sollst dir kein Bild von Gott machen“

Nächstenliebe ist das eine. Christliche Liebe bezieht sich ja vor allem auf Gott, und drittens auch auf die Beziehung zu sich selbst: „Liebe den Herrn, deinen Gott, (…) und liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Wenn Gott zu lieben auch bedeutet, sich von Gott kein Bild zu machen, dann steht das so schon in den zehn Geboten.

Das Heilige ist ohnehin ein Mysterium, also sollte das nicht zu schwer fallen, könnte man meinen. Und doch glauben Menschen immer wieder – ich inklusive –, dass sie wüssten, „wo Gott hockt“. Was Gott gut findet und was schlecht, was Gott erwartet (von anderen und von einem selbst), wie er aussieht und wie ganz bestimmt nicht. Wenn wir uns dafür öffnen, dass manches davon vielleicht gar nicht stimmt, dann weitet sich unser Verständnis von Gott. Und wir lassen uns überraschen. Im Alltag, durch einen Text oder durch Erlebnisse, die wir Gott zuordnen, aber so gar nicht erwartet hätten.

Wenn das Selbstbild Risse kriegt

„…wie du dich selber liebst.“ Ich glaube, dass Jesus wusste, dass dieser Teil für viele Menschen der schwierigste ist: Selbsthass, Unzufriedenheit, Vergleichen, Minderwertigkeitsgefühle… Wenn Selbstliebe heisst, sich auch von sich selbst kein Bild zu machen, was bedeutet das? Sich selbst zu kennen, hilft, den eigenen Weg zu finden. Aber manche Vorstellungen tragen auch dazu bei, sich zu limitieren oder den Realitätsbezug zu verlieren. „Ich bin eher eine ängstliche Person“, zum Beispiel. Oder: „Mich kennt und respektiert man.“ Das eine führt dazu, dass man sich unterschätzt und wenig zutraut. Das andere dazu, dass man den Boden unter den Füssen verliert, wenn dieses Bild mal Risse kriegt. 

Sich kein Bild zu machen, kann nur einer der Aspekte von Liebe sein. Es tut gut, zu vertrauen, dass man sich auf einen anderen Menschen verlassen kann. Auch eine Vorstellung von Gott zu haben – gütig, allgegenwärtig, liebevoll –, gibt Geborgenheit. Das berücksichtigt auch Dorothee Sölle. Ihr Aufsatz steht unter dem Titel „Dialektik der Liebe“: Es gibt also zur Definition von Max Frisch noch einen Gegenpol. Diesen bezieht Sölle ebenfalls von einem Dichter, von Bertolt Brecht:

„Was tun Sie, wurde Herr K. gefragt, wenn Sie einen Menschen lieben? Ich mache einen Entwurf von ihm, sagte Herr K., und sorge, daß er ihm ähnlich wird. Wer? Der Entwurf? Nein, sagte Herr K., der Mensch.“

Zuerst mag das klingen, als wolle Herr K. dem geliebten Menschen eine Vorstellung überstülpen. Aber gemeint ist etwas anderes: Lieben bedeutet auch, das Potenzial einer Person zu sehen. Mehr in ihr zu sehen, als andere, oder sogar als sie selber. Und ihr die Freiheit zu lassen, sich zu entfalten und zu entwickeln.

 

[1] „Dialektik der Liebe“, in: Dorothee Sölle, „Atheistisch an Gott glauben“, Olten 1968.

Photo by Chase Clark on Unsplash

2 Kommentare zu „Das Gegenteil von Tinder“

  1. August Elsensohn

    Ganz grossen Dank für diese tiefgründigen Gedanken.
    Beim « Wenn das Selbstbild Risse bekommt..» bin ich etwas gestolpert.
    So habe ich «Selbstbild» mit «Ego» ersetzt. Wenn also mein EGO Risse bekommt, dann wird mir – vielleicht – mein SELBST etwas deutlicher.
    Mit SELBST meine ich Seele, oder Resonanz der Ur-Beziehung. (vgl. Jer 1,5 ..bevor ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich erkannt…)

  2. „…das kann nicht von aussen verordnet werden.“ Damit bin ich völllig einverstanden. Liebe für andere ist wachstümlich und andererseits kann sie nur geschenkt werden. Liebe erzeugt Liebe. Die Quelle der Liebe ist für mich Gott selber ( 1Joh.4,7-8).

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