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 Lesedauer: 7 Minuten

Auf dünnem Eis tanzen

Herabfallende Klaviere

Ich bin mit Garfield-Comics aufgewachsen. In fast jeder Ausgabe fanden sich auch zwei drei Seiten mit Garfields Abenteuern auf »Orson’s Farm«. Neben den üblichen Bauernhoftieren trat dort eine paranoide Ente mit einem Schwimmring um den Bauch auf. Sie hatte panische Angst vor Wasser (darum die Schwimmhilfe), fühlte sich ständig verfolgt und rechnete immer und überall damit, vom Unglück heimgesucht zu werden.

Wähnte sich die Ente für einmal in Sicherheit, weil weit und breit keine Gefahr auszumachen war, dann konnte man als Leser*in gewiss sein, dass der arme Vogel im nächsten Bild von einem aus heiterem Himmel herabfallenden Klavier erschlagen wurde. Das war der Running Gag auf Orson’s Farm:

Duck, die Unglücksente, wird von einem Piano niedergestreckt.

Das Witzige daran lag natürlich in der totalen Unwahrscheinlichkeit des Ereignisses, näherhin in der Tatsache, dass ausgerechnet diese gefiederte Inkarnation der Ängstlichkeit und Unheilserwartung regelmäßig von einem solchen Ausnahmeereignis eingeholt wurde. Die eigentlich irrationale Angst der Ente erwies sich auf perfide Weise als gerechtfertigt.

Schwarze Schwäne

Heute würde man wohl nicht von einem herabfallenden Klavier, sondern von einem »Schwarzen Schwan« sprechen. Diese Rede geht auf den Bestseller »The Black Swan« zurück, welcher 2007 vom libanesischen Statistiker und Finanzmathematiker Nassim Nicholas Taleb verfasst wurde. Es handelt sich um eine ausnehmend unterhaltsame Studie zur »Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse« (so der Untertitel des Buches in deutscher Fassung).

Und eben dafür steht die Metapher des schwarzen Schwans: für unkalkulierbare, unerwartete Vorkommnisse mit weitreichenden Folgen. Man rechnet nicht damit, dass sie auftreten, bis sie auftreten – und die Karten des globalen Spiels ganz neu mischen.

Die Anschläge vom 11. September 2001 auf das World Trade Center und ihre politischen und ökonomischen Folgen sind ein klassisches Beispiel dafür, aber auch der Kollaps des amerikanischen Finanzsystems 2008, die Nuklearkatastrophe von Fukushima 2011 und andere Ausnahmesituationen werden zu den schwarzen Schwänen der jüngsten Geschichte gezählt. Herabfallende Klaviere gigantischen Ausmaßes, wenn man so will.

Schwarze Schwäne lassen sich weder vorhersehen noch durch irgendwelche Manöver umgehen – aber man könnte wenigstens die Möglichkeit ihres Auftretens in Betracht ziehen und sich entsprechend darauf vorbereiten. Dass dies meistens nicht geschieht, zeigen die Geschichten der gerade genannten Beispiele.

Trügerische Sorglosigkeit

Stattdessen scheint es zur politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Werkseinstellung der Moderne zu gehören, sich in trügerischer Sicherheit zu wiegen. Nur so ist die schiere Fassungslosigkeit zu erklären, mit der die Öffentlichkeit auf schwarze Schwäne reagiert, wenn sie denn auftauchen – und die Ignoranz, mit welcher den »Untergangspropheten« begegnet wird, welche vor empfindlichen Systemerschütterungen warnen.

So wurden im Vorfeld von 9/11 alle Anzeichen auf einen Anschlag der Al Kaida in den Wind geschlagen (»auf eigenem Territorium ist die USA unangreifbar«), die Wahrscheinlichkeit von Atomunfällen wurde als verschwindend gering eingestuft (»nach Berechnungen der Risikoanalysten ist mit einem Atomunfall nur einmal in 1 Million Jahre zu rechnen« – diese Zahl wurde nach Fukushima dann auf »alle 30 Jahre« herunterkorrigiert…), und die Warnungen von Finanzexperten vor dem Zusammenbruch als Panikmache abgetan oder mit Hilfe von »positivem Denken« wegmeditiert.

Auf dem Hintergrund jüngster Ereignisse kann das weitgehend sorglose Lebensgefühl zumal in westlichen Gesellschaften eigentlich nur als Ergebnis einer beachtlichen Verdrängungsleistung verstanden werden.

Graue Enten

Das gilt nun auch und ganz besonders für die aktuelle Corona-Krise. Man ist geneigt, die Covid-19-Pandemie als weiteres typisches Beispiel eines schwarzen Schwans einzuordnen: ein unvorhersehbares Ereignis, das einschneidende Konsequenzen zeitigt. Das ist aber mitnichten der Fall.

Taleb selbst bezeichnet eine baldige Pandemie bereits in seinem Kultbuch als klassischen »weißen Schwan« – als ein schwerwiegendes, aber völlig absehbares Szenario, das mit Gewissheit in den nächsten Jahren eintreffen wird. Damit beweist er keine prophetischen Fähigkeiten, sondern wiederholt einfach, was an internationalen Kongressen und Fachtagungen in den letzten 20 Jahren immer wieder mit Nachdruck deutlich gemacht wurde:

Die Strukturen der modernen Welt, die Verflechtungen der Transportwege und die enormen Reiseströme sind auf eine weltweite Seuche regelrecht angelegt.

In einem berühmten TED-Talk aus dem Jahr 2015 erklärt der Microsoft-Milliardär und Philanthrop Bill Gates die hohe Wahrscheinlichkeit einer schweren Pandemie. Die Rede trägt den bezeichnenden Titel »Der nächste Ausbruch: Wir sind nicht vorbereitet«.

Noch im Herbst 2019 haben anerkannte Forschungseinrichtungen mögliche Verläufe einer weltweiten Verbreitung neuartiger Corona-Viren durchgespielt, welche derart nahe bei den Ereignissen des Frühjahres 2020 sind, dass Verschwörungstheoretiker allerorts in Schnappatmung verfielen: Ganz klarer Fall, das war alles von langer Hand geplant!

Nein, es war einfach erschreckend vorhersehbar. Kein »Schwarzer Schwan«, nicht einmal eine graue Ente.

Unvorbereitete Welt

Aber selbst dafür wurden keine ausreichenden Vorkehrungen getroffen. Im Gegenteil: Die Trump-Administration hat 2018 das Frühwarnprogramm für Virenausbrüche (mit dem bezeichnenden Namen »PREDICT«) ausgesetzt und das »pandemic response team« abgeschafft, während im selben Jahr bei uns in der Schweiz das Pandemie-Depot aufgelöst und die zur Desinfektionsmittel-Herstellung benötigten Ethanol-Reserven verschachert wurden (es handelte sich um ca. 10’000 Tonnen – laut Expertenaussagen genügend, um das ganze Land während einer Pandemie mit Desinfektionsmittel zu versorgen…).

So erwischt das neue Virus Covid-19 selbst hochentwickelte Gesellschaften völlig auf dem linken Fuss. Die Schweiz steht bereits zwei Wochen nach Ankunft des Virus mit dem Rücken zur Wand: Nicht nur den Apotheken gehen die Atemmasken und Desinfektionsmittel aus, auch in den Spitälern werden diese fundamentalen Präventionsmittel bald rar. Zur Abhilfe stellen Schnapsbrennereien auf Ethanolproduktion um, Ärzte reinigen Masken zwecks Wiederverwendung in der heimischen Waschmaschine, und der unbedarfte Schweizer reibt sich die Augen angesichts der Vulnerabilität des wohl teuersten pro-Kopf-Gesundheitssystems der Welt.

Die mangelhafte Pandemie-Prävention in der westlichen Welt wird damit zum Paradebeispiel für die gefährliche Unbeschwertheit im Umgang mit risikoanalytisch höchst wahrscheinlichen Katastrophenszenarien.

Mit anderen Worten: Es sind gar keine schwarzen Schwäne nötig, um uns gehörig aus dem Konzept zu bringen.

Empfindliche Risikogesellschaft

Es liegt nahe, hier die Rede von der »Risikogesellschaft« heranzuziehen, wie sie vom Soziologen Ulrich Beck bereits in den 1980er Jahren geprägt und näherbestimmt wurde. Sein gleichnamiges Buch erschien 1986 und erhielt durch die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im gleichen Jahr tragische Aktualität.

Beck zeigt auf, was uns heute noch viel unmittelbarer vor Augen steht – dass nämlich unsere fortgeschrittene Moderne nicht nur einen nie dagewesenen Reichtum produziert, sondern auch nie dagewesene Risiken hervorbringt (so der Schlüsselsatz bei Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, 25: »In der fortgeschrittenen Moderne geht die gesellschaftliche Produktion von Reichtum systematisch einher mit der gesellschaftlichen Produktion von Risiken«). Und er weist längst darauf hin, dass diese Gefährdungen der Wohlstandsgesellschaft(en) im Namen des Fortschritts geradezu strategisch heruntergespielt, verdrängt oder geleugnet werden.

Die Welt ist in unserer globalisierten Gegenwart nicht nur zum Dorf geworden, sondern vielmehr zu einem hochkomplexen und störungsanfälligen Mobile zusammengewachsen: Eine einzige Erschütterung an einer abgeschiedenen Stelle kann das ganze Konstrukt aus dem Gleichgewicht bringen und das Überlegenheitspathos unserer hochentwickelten Gesellschaft Lügen strafen.

Die moderne Zivilisation geht mit ungeahnten ökologischen, ökonomischen, gesundheitlichen Wagnissen einher. Nie wurde uns das eindrücklicher und schmerzhafter beigebracht als in den vielfältigen Folgeerscheinungen der Coronakrise.

Christliche Perspektiven

Die umrissene prekäre Ausgangslage wirft eine fundamentale Frage auf uns zurück: Wie kann man eigentlich in einer Risikogesellschaft leben, ohne sich selbst zu betrügen? Wenn man nicht mit verschlossenen Augen einfach darauf hoffen will, mal wieder »Schwein« zu haben, wenn man aber auch nicht in Furcht erstarren möchte vor den Gefahren der modernen Gesellschaft: Wie kann das gehen?

Wie lebt man ein gutes, sprich: sinnerfülltes und sinnstiftendes Leben im Angesicht der Unberechenbarkeiten unserer Zeit? Oder, etwas poetischer ausgedrückt: Wie tanzt man auf dünnem Eis?

Das ist die Frage, die mich zu einer Serie von Blogbeiträgen inspiriert hat. In den kommenden Artikeln versuche ich, einige Einsichten zur Diskussion zu stellen, die ich gewonnen habe im Blick auf ein Leben, das sich mit den Unberechenbarkeiten des Lebens anzufreunden vermag.

Perspektiven des christlichen Glaubens sollen dabei ebenfalls zur Sprache kommen. Denn natürlich sind auch Kirchen (und andere Religionsgemeinschaften) in unserer Zeit herausgefordert, den Unberechenbarkeiten des spätmodernen Lebens zu begegnen und zu zeigen, ob und inwiefern der Gottesglaube beim Tanz auf dem dünnen Eis helfen kann.

Und eigentlich sollte die Religion eben hier ihre Kernkompetenzen ausspielen können, zumindest wenn man sie (nach Hermann Lübbe und anderen) im Wesentlichen als »Kontingenzbewältigungspraxis« versteht: Religion befähigt Menschen nach dieser populären Funktionsbestimmung, mit den Einbrüchen des Tragischen und Verhängnisvollen ins Leben umgehen zu können.

Ganz so selbstverständlich ergeben sich die christlichen Antworten darauf aber doch nicht, da viele Kirchen sich doch eher durch einen ausgeprägten Beharrungswillen und eine weitgehende Veränderungsresistenz und weniger durch Anpassungsfähigkeit im Umgang mit Unvorhergesehenem einen Namen gemacht haben.

Stellt der christliche Glaube Ressourcen bereit, die zum erfüllten Leben inmitten einer Risikogesellschaft beitragen?

 

Illustration: Rodja Galli

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