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 Lesedauer: 17 Minuten

Verschwörungstheorien [Teil 3] – Eine Bauanleitung.

Vertieftes Verständnis

Um ein tieferes Verständnis zu gewinnen für das, was gegenwärtig den Datendurchsatz der Sozialen Medien explodieren lässt und unter dem Label »Verschwörungstheorien« eifrige Journalist*innen nachts wach hält, wollen wir versuchen, gewissermaßen einen Blick hinter die Kulissen zu werfen. Was ist der Meccano konspirationistischer Modelle, was ist ihr Erfolgsrezept?

Diese Überlegungen sollen freilich nicht einfach dazu dienen, Verschwörungstheorien besser identifizieren und abschießen zu können, sondern vielmehr dazu, Gemeinsamkeiten mit der Art und Weise auszumachen, in der auch »Nicht-Verschwörungstheoretiker*innen« sich die Welt zurechtlegen und Dinge erklären.

Auch hier geht es um einen Ruf zur Bescheidenheit – aber eben auch um die Herausforderung, seine eigenen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen zu klären und aufzuzeigen, welche Kriterien von Rationalität man verfolgt bzw. woran man die (Un-)Glaubwürdigkeit von Überzeugungen misst. Diese Selbstreflexion schafft erst die Möglichkeit der Kommunikation über Grenzen von Subkulturen, Milieus und Interessengemeinschaften hiniaus.

Verschiedene Reichweiten

Zunächst einmal gilt für »Verschwörungstheorien« natürlich, was für alle komplexen Phänomene gilt – nämlich, dass sie sich nicht randscharf umreißen lassen.

Das Feld sogenannter Verschwörungstheorien ist vielmehr diffus und weit ausgestreckt, und in der Forschung kursieren zahlreiche Vorschläge, Kategorien konspirationistischer Ideen zu differenzieren.

Manche unterscheiden zuerst »Ereignisverschwörungstheorien«, welche die Hintergründe eines bestimmten, klar definierten Ereignisses erklären wollen (den Mord an J.F.K., die Anschläge vom 11. September, die Mondlandung…), von »Systemverschwörungstheorien«: Diese schreiben einer konspirativen Gruppe eine ganze Reihe von Ereignissen zu, mit denen sie ihre dunklen Ziele verfolgen (vgl. etwa die angebliche kommunistische Verschwörung zur Zeit des zweiten Weltkrieges).

Davon lassen sich schließlich »Superverschwörungstheorien« abgrenzen, welche alle möglichen Ereignis- und Systemverschwörungstheorien zu einem Gesamtmodell verschmelzen, das dann globale Missstände erklärt (z.B. die Idee einer Illuminaten-Weltverschwörung oder die Reptiloiden-Theorie…).[1]

Unterschiedliche Machtpositionen

Man kann auch anhand der »Machtposition« der Verschwörer einteilen – dann gibt es Verschwörungstheorien »von oben« und »von unten«, je nachdem, ob die Verschwörer die Elite eines Landes bereits (von oben) kontrollieren, oder ob sie die Institutionen und Gesellschaften erst (von unten) zu infiltrieren versuchen. Befinden sich die Verschwörer noch außerhalb des eigenen Landes oder einer Organisation, kann man nach derselben Logik von einer Verschwörungstheorie »von außen« sprechen – wenn die heimischen Einrichtungen schon unterwandert sind, handelt es sich um eine Theorie »von innen«.

In den vergangenen Jahrzehnten lässt sich indes die eindeutige Tendenz ausmachen, »Verschwörungen von innen und oben zu identifizieren«:[2] Die Verschwörung ist also längst in den eigenen Breitengraden angekommen, und sie wird von den politischen oder wirtschaftlichen Eliten getragen.

Die meisten der im Zuge der Pandemie-Krise verbreiteten konspirationistischen Ideen fallen in diese Kategorie – namentlich die Überzeugungen, die WHO und die globale Pharmaindustrie hätte das Coronavirus in die Welt gesetzt oder mindestens instrumentalisiert, um Impfstoffe unters Volk zu bringen und mit der Unterstützung von Staatoberhäuptern die Bevölkerung zu reduzieren, oder sie über einen eingepflanzten Mikrochip zu kontrollieren.

Himmelschreiende Missstände

Trotz dieser Bandbreite konspirationistischer Konstrukte lässt sich aber dann doch eine ziemlich einheitliche Rezeptur von Verschwörungstheorien ausmachen. Diesen Zutaten soll nun im Einzelnen nachgegangen werden – angefangen bei der offensichtlichen Voraussetzung, dass eine Verschwörungstheorie nur auf dem Boden realer oder zumindest empfundener Missstände aufblüht.[3]

Auch wenn Verschwörungstheorien zuweilen einen großen Unterhaltungswert aufweisen, so leben sie doch nicht vom bloßen Entertainment: Sie wollen Ungerechtigkeiten aufdecken und Notlagen erklären – ja letztlich das Böse besiegen und die Welt verändern.[4]

Nicht umsonst beobachtet Matthias Pöhlmann, dass Verschwörungstheorien bei ihren Vertretern die Funktion einer säkularisierten Theodizee einnehmen: Sie machen einen tieferen Sinn hinter individuellem oder kollektivem Leiden aus und begreifen die Kontingenzen des Lebens mit all ihren Ungerechtigkeiten als Folgen innerweltlicher Machtspiele.[5]

Darum gelangen Verschwörungstheorien auch in Krisenzeiten zu besonderer Blüte – das lässt sich an Kriegen, Pestausbrüchen und Terroranschlägen ebenso nachweisen wie an der aktuellen Corona-Pandemie.

Verdächtige Gruppen

Eine konspirationistische Idee, die auf breite Resonanz stoßen will, muss an bereits vorhandene Ressentiments und Vorurteile anknüpfen können. »Die Grundlage einer erfolgreichen Verschwörungstheorie lautet: Es muss ein Verschwörungsglauben vorgeprägt sein, ein latentes Misstrauen gegen eine andere soziale, ethnische oder religiöse Gruppe«.[6]

Der objektive Missstand oder die subjektiv empfundene Notlage muss also auf einen gehegten Verdacht treffen und die Reaktion provozieren: »Das macht Sinn, denen traue ich ohnehin alles zu!«

Es versteht sich von selbst, dass gerade hier auch das Gefahrenpotenzial von Verschwörungstheorien transparent wird. Sie verfestigen begründungsarme Vorurteile und unterschwelligen Argwohn zu handfesten (und potenziell gewaltstiftenden) Schuldzuweisungen. Die lange Reihe an Missständen, von der Pest über Missernten bis zu finanziellen Krisen, welche auf diese Weise den Juden angelastet wurde, sollten hier Warnung genug sein.[7]

In neueren Verschwörungstheorien sind es meistens politische oder wirtschaftliche Eliten – Regierungen, Konzernleitungen, Superreiche, Militärchefs oder Geheimdienste – die als Schuldige für folgenschwere Ereignisse oder gesellschaftliche Ungerechtigkeiten ausgemacht werden.[8]

Geheime Verbindungen

Jetzt braucht es aber natürlich noch eine eigentliche »Theorie«,[9] welche die angeprangerten Missstände mit den verdächtigten Personengruppen in Verbindung bringt und also erklärt, wie und warum diese Missstände und Notlagen überhaupt herbeigeführt wurden.

Dabei muss es sich um verdeckte Machenschaften handeln, um hintergründige Motive und intrigante Seilschaften – sonst ginge es ja nicht um eine Verschwörung, sondern einfach um offensichtliche Missstände und augenfällige (wirtschaftliche und politische) Verbrechen. Nein, die Dinge sind eben nicht, wie sie scheinen: Was aussieht wie ein durch Terroranschläge ausgelöster Krieg, wie eine in der chinesischen Landbevölkerung ausgebrochene Pandemie, wie die unschuldige Idee, Kinder gegen Krankheiten zu impfen oder einen bargeldlosen Alltag zu ermöglichen, ist in Tat und Wahrheit Teil eines verschwörerischen Kalküls zur Erreichung übergeordneter Ziele.

Diese (un-)heimliche Agenda der Verschwörer ist undurchsichtig genug, um die gutgläubigen Massen in die Irre zu führen, zugleich aber nicht so unergründlich, dass man darüber nichts herausfinden könnte: Für die Aufgeweckten und Eingeweihten liegen die Indizien vielmehr klar auf der Hand.[10]

Strategische Selbstimmunisierung

Eben darin liegt, wie wir bereits gesehen haben, der Reiz konspirationistischen Denkens: Es erklärt das Unerklärliche, es ordnet das Komplexe, ja es ringt dem Zufälligen und Schicksalshaften einen tieferen Sinn ab. Dabei beweist es eine enorme integrative Kraft: Verschwörungstheorien binden Ereignisse mit großen geografischen (oder zeitlichen) Abständen zusammen und machen wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Figuren zu eingeschworenen Akteuren eines grandiosen Masterplans.

Alles passt auf einmal zusammen – und was nicht passt, wird passend gemacht: Es gehört zu den konstitutiven Kennzeichen des Konspirationismus, dass er vor kritischen Anfragen und Gegenbeweisen nicht in die Knie geht, sondern diese vielmehr ins eigene Theoriegebäude absorbiert. Aktuelle Untersuchungen widersprechen der Behauptung, Impfungen würden Autismus auslösen? Dann sind die wissenschaftlichen Institute eben selber in die Sache verwickelt und verfälschen vorsätzlich ihre Forschungsergebnisse! Die Medien widerlegen die Idee, Bill Gates hätte das Coronavirus in die Welt gesetzt, um an den Heilmitteln ein Vermögen zu scheffeln? Natürlich sagt die Lügenpresse das, die stecken doch mit den Verschwörern unter einer Decke![11]

Jede Anfrage und jedes widersprüchliche Indiz wird von einer guten Verschwörungstheorie im Handumdrehen zum Teil eines immer noch grösser werdenden Komplotts umfunktioniert: Die Theorie zerbricht nicht an ihrer Kritik, sondern wächst an ihr – sie »frisst« ihre Gegner gewissermaßen auf.

Man könnte hier auch von einem »Matrjoschka-Effekt« sprechen: Wie die berühmten in sich verschachtelten russischen Holzpuppen kann eine Verschwörungstheorie ihre Form behalten, während sie immer neue Ereignisse und Evidenzen in sich integriert und dabei weiter anschwillt. Darin liegt ihre in beiderlei Wortsinn »unheimliche« Stärke, läuft ihre Funktionsweise doch auf eine völlige Selbstimmunisierung gegen Kritik hinaus.

Kognitive Dissonanzen

Es besteht allerdings wenig Anlass, sich den Verschwörungstheoretiker*innen aufgrund solcher Immunisierungsmechanismen grundsätzlich überlegen zu fühlen. Die Kognitionsforschung hat längst nachgewiesen, dass letztlich jeder Mensch dazu neigt, sich in den eigenen Überzeugungen zu bestärken und kritische Einwände strategisch zu ignorieren oder zu absorbieren. »Uns wohnt ein tiefsitzendes Bedürfnis inne, mit unseren Ansichten recht zu haben«, schreibt der Londoner Psychologe Rob Brotherton in einer faszinierenden Studie zur menschlichen Verschwörungsneigung.[12]

Nach Brotherton hängen wir zwar der Vorstellung an, unsere Überzeugungen wären aus einer unparteiischen Bewertung der verfügbaren Informationen hervorgegangen – in Wahrheit funktioniert unser Gehirn aber gerade andersherum: Am Anfang steht die »Schlussfolgerung«, und dann macht sich unser Gedankenapparat auf die Suche nach Beweisen, welche zu dem passen, was wir längst glauben.[13]

Man nennt diese Tendenz auch »confirmation bias« oder »(Selbst-)Bestätigungsfehler«. Sie ergibt sich schon aus der Tatsache, dass es intellektuell anstrengend und emotional schmerzhaft ist, liebgewonnene Gedankenmuster zu verlassen und überkommene Erklärungsmodelle zu verabschieden. Wir sind deshalb intrinsisch motiviert, die Welt so wahrzunehmen, dass unsere vorgefassten Einschätzungen bestätigt und kognitive Dissonanzen vermieden werden.[14] Algorithmen auf Google, Youtube, Facebook und Co. tragen das ihre dazu bei, dass wir in unseren Filterblasen verhaftet bleiben und ständig auf Informationen treffen, die unsere bisherigen Überzeugungen bewahrheiten.

Voreingenommene Wissenschaften

Der Einwand, dies treffe auf den Bereich unausgegorener Meinungen und populären Halbwissens gewiss zu, unterscheide diesen aber gerade damit von der Sphäre respektabler Wissenschaften, hält einer Überprüfung nicht stand. Die aktuelle wissenschaftstheoretische Forschung stellt uns vielmehr vor die demütigende Einsicht, dass mitten im akademischen Diskurs und auch in den auf ihre Objektivität so stolzen Naturwissenschaften die Empfänglichkeit für Forschungsergebnisse, welche die gängigen Paradigmen problematisieren, zuweilen erschreckend klein ist.[15] Gerade gestandenen Wissenschaftler*innen fällt es ausgesprochen schwer, ihre Standpunkte zu verlassen – oft wird die eigene Position buchstäblich bis zum letzten Atemzug entgegen vieler Evidenzen verteidigt.

Die Studie von Thomas Kuhn zur »Struktur wissenschaftlicher Revolutionen« ist hier einschlägig.[16] Im Zuge einer breiten historischen Untersuchung weist Kuhn nach, dass die »scientific community« jeder Wissenschaftsepoche ihre Forschungen in einem bestimmten Theorierahmenkonzept betreibt, das auch angesichts von Anomalien und Widersprüchlichkeiten nicht in Frage gestellt wird. Wissenschaftliche Revolutionen finden bezeichnenderweise nicht dann statt, wenn alte Forschungsparadigmen falsifiziert und durch neue Erkenntnisse überholt wurden, sondern wenn die Vertreter der überkommenen Ansichten aussterben.

Kuhn weist »die Entwicklung der Einzelwissenschaften« damit als »einen vollkommen irrationalen Prozess« aus, der nicht der »Logik der Forschung« (Karl Popper) folgt, sondern eher der »Biologie der Forschenden«:

Auch wenn sie lange überholt sind, beharren Wissenschaftler*innen zuweilen auf ihren Wahrheitsansprüchen und »verstopfen« gewissermaßen den Forschungsfluss, bis die Natur das Problem durch deren Ableben löst…[17]

Notwendige Transparenz

Sind wir dann aber dazu verurteilt, in unserer eigenen Suppe zu schmoren, uns in unseren Filterblasen und Binnenrationalitäten bis zur völligen Kritikresistenz selbst zu bestätigen?

Nicht notwendigerweise. Gerade wenn man in der Öffentlichkeit und also milieuübergreifend verstanden werden möchte, muss man ja einsichtig machen können, warum man bestimmte Ansichten vertritt und bestimmten Weltbildern anhängt. Die grundsätzlich »missionarische« Dimension von Wahrheitsansprüchen kommt uns hier zu Hilfe: Anhänger selbst (und gerade) der krudesten Verschwörungstheorien, aber auch Marxisten, Ultrakapitalisten, Christen, Muslime, Esoteriker, Pluralisten und Liberal-Intellektuelle sind von ihrer Sicht der Dinge in aller Regel genug überzeugt, um sich zu wünschen, dass auch andere sie teilen.

Dann aber können sie Dinge nicht nur behaupten, sondern müssen auch Gründe für ihre Behauptungen anführen und zeigen, welche »Rationalität« hinter ihren Überzeugungen steht. Dazu gehört vernünftigerweise auch, Kriterien für die Plausibilität einer Theorie angeben zu können:

Wann und warum halte ich etwas für überzeugend, wann und warum verurteile ich etwas als abstrus, irrational, abwegig? Welche Argumente oder Beobachtungen könnte meine Überzeugungen ernsthaft in Frage stellen?

Auch Anhänger einer Reptiloiden-Verschwörung werden solche Regeln angeben können und wollen – sie möchten ihre Wahrnehmungen ja nachvollziehbar machen und Menschen dafür gewinnen!

Christliche Tugenden

Auch an dieser Stelle lässt sich auf eine christliche Diskursethik verweisen, die ihren Namen verdient. Schon der erste Petrusbrief ermutigt die Anhänger der jungen Jesusbewegung dazu, »jederzeit bereit« zu sein, »Rede und Antwort zu stehen, wenn jemand von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die in euch ist« (1. Petrus 3,15). Dass damit nicht nur die Bereitschaft zur intellektuellen Auseinandersetzung gemeint ist, macht der literarische und historische Kontext der Stelle deutlich: Es geht um ein lebendiges Zeugnis für Jesus Christus in Wort und Tat, um eine authentische und glaubwürdige christliche Existenz inmitten von Widerständen und Ungerechtigkeiten.

Sehr wohl geht es aber auch darum, vor Anfragen nicht zurückzuschrecken, sich nicht in einer kritikresistenten Subkultur einzuigeln und dabei die Kommunikabilität des eigenen Glaubens aufs Spiel zu setzen.

Die Bereitschaft, Gründe für die eigenen Überzeugungen anzugeben und dem Gegenüber sein Artikulationsrecht nicht abzusprechen, gehört zu den fundamentalen Tugenden eines gesunden Christentums.

Dabei argumentieren auch und gerade die Vertreter*innen des christlichen Glaubens nicht einfach aus sicherer, überlegender Warte aus. Vielmehr riskieren sie ihr »Evangelium« in gewisser Weise immer neu, indem sie es den Rationalitäten anderer Milieus und den Wahrnehmungen fremder Diskursgemeinschaften aussetzen. Dass es dabei nicht allein zu heilsamen Horizonterweiterungen und Bubble-übergreifenden Einsichten kommt, sondern dass Christinnen und Christen ihr Evangelium auf diesem Weg auch ganz neu entdecken, ja wiedergewinnen können, gehört zu den erfrischenden Folgeerscheinungen solcher Auseinandersetzungen.

 

Quellennachweise und Anmerkungen

[1] Vgl. Michael Barkun: The Nature of Conspiracy Belief, in: A Culture of Conspiracy. Apocalyptic Visions in Contemporary America, University of Calofornia Press, Berkeley 2013, 1-14. Eine ähnliche Einteilung schlägt Thomas Grüter vor in: Thomas Grüter: Freimaurer, Illuminaten und andere Verschwörer, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main (4. Auflage) 2016, 46-52. Grüter will zuerst von »Verschwörungsglauben« reden, wenn die »unbestimmte, nicht näher definierte Vorstellung« herrscht, »eine Gruppe habe sich verabredet, böse oder verbrecherische Taten zu vollbringen« (ebd., 48). Diese Kategorie bewegt sich in der Nähe dessen, was Barkun als »Systemverschwörungstheorie« bezeichnet, spielt aber noch stärker auf die untergründigen Vorurteile an. Eine »Verschwörungslegende« ist dagegen »die Umdeutung eines tatsächlichen Ereignisses im Sinne eines Verschwörungsglaubens« – Barkun würde hier eben von »Ereignisverschwörungstheorien« sprechen. Schliesslich macht Grüter dort eigentliche »Verschwörungstheorien« aus, wo eine zusammenhängende Begründung für eine oder mehrere Verschwörungslegenden« vorgelegt wird (ebd., 49). Die Verschwörungstheorie in diesem engeren Sinne »schafft ein intellektuelles, pseudowissenschaftliches Gedankengebäude, auf das sich wiederum der zugrunde liegende Verschwörungsglaube beruft« (ebd.).

[2] Vgl. Michael Butter: »Nichts ist, wie es scheint«. Über Verschwörungstheorien, Suhrkamp Verlag, Berlin 2018, 29-36; das Zitat findet sich auf Seite 31. Vgl. ebd., 173: »Seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts adressieren konspirationistische Vorwürfe vor allem Feinde ›von oben‹: politische Eliten wie die Regierung sowie Institutionen wie Geheimdienste und Militär oder Finanzeliten.«

[3] Dass es sich nicht immer um tatsächliche Missstände handeln muss, beweisen zahlreiche Verschwörungstheorien, die sich um die »Islamisierung Europas« ranken – und die nicht selten gerade dort Verbreitung finden, wo die Zahlen von Eingewanderten und Geflüchteten aus islamischen Ländern ausserordentlich tief sind. Vgl. exemplarisch das Interview mit »Thomas Reinhardt« (geänderter Name) in: Ingo Leipner & Joachim Stall: Verschwörungstheorien – eine Frage der Perspektive. Von Chemtrails, Ufos, Reptiloiden und Reichsbürgern, Redline Verlag, München 2019, 118-126. Differenziert zur Sache:  Stefan Schweizer & Hubert Michelis: Islamisierung Deutschlands? Fakten – Fragen – Lösungsansätze, Waiblingen 2017.

[4] Vgl. die prägnante Wiedergabe bei Michael Butter: »Nichts ist, wie es scheint«. Über Verschwörungstheorien, Suhrkamp Verlag, Berlin 2018, 104: »Verschwörungstheorien stiften Sinn und betonen menschliche Handlungsfähigkeit; sie ermöglichen es, die vermeintlich Schuldigen zu identifizieren, und transportieren die Hoffnung, dass diesen das Handwerk gelegt werden kann.«

[5] Vgl. Matthias Pöhlmann: Im Sinnlosen Sinn finden? Theologische Unterscheidungshilfen zum Verschwörungslauben, in: Christian Metzenthin (Hg.): Verschwörungstheorien. Psychologische, soziologische und theologische Perspektiven, Theologischer Verlag Zürich, Zürich 2019, 97: »Heutiger Verschwörungsglaube trägt deutlich Züge einer säkularen Weltanschauung, er ünernimmt im Denken seiner Anhänger die Funktion einer ›Theologie‹ ohne Gott. Man kann sogar sagen: Es handelt sich um eine schlecht säkularisierte Theologie bzw. um eine Säkularisierung des Theodizee-Problems: Im Mittelpunkt heutigen Verschwörungsglaubens steht nicht mehr die Frage ›Warum lässt Gott das zu?‹, sondern ›Warum widerfährt mir das?‹«.

[6] Thomas Grüter: Freimaurer, Illuminaten und andere Verschwörer, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main (4. Auflage) 2016, 47. Grüter führt weiter aus: »Es geht hier nur um Gefühle, dumpfe Ahnungen, geflüsterte Vermutungen, Marktklatsch, Stammtischreden. Erst wenn jemand auf diesem morastigen Fundament ein in sich geschlossenes Gedankengebäude errichtet, können wir von einer Verschwörungstheorie sprechen. Die Logik der Theorie muss nicht besonders zwingend sein. Wenn die Aussage einer Verschwörungstheorie mit dem eigenen Weltbild übereinstimmt, akzeptieren die Menschen auch widersprüchliche oder offensichtlich unwahre Behauptungen.«

[7] Mit dem Gewaltpotenzial und der Frage nach der Gefährlichkeit von Verschwörungstheorien befasst sich Michael Butter in: Michael Butter: »Nichts ist, wie es scheint«. Über Verschwörungstheorien, Suhrkamp Verlag, Berlin 2018, 219-233.

[8] Michael Butter macht in dieser Elitekritik die »offensichtlichste Parallele« zwischen Populismus und Verschwörungstheorien aus – vgl. Michael Butter: »Nichts ist, wie es scheint«. Über Verschwörungstheorien, Suhrkamp Verlag, Berlin 2018, 172f.

[9] Zur Frage der Angemessenheit eines wissenschaftlichen Theoriebegriffs im Blick auf den Konspirationismus (»Verschwörungstheorien«) vgl. Michael Butter: »Nichts ist, wie es scheint«. Über Verschwörungstheorien, Suhrkamp Verlag, Berlin 2018, 52-56.

[10] Zum Überlegenheitsgefühl, welches durch den Einblick in die Verschwörung vermittelt wird, vgl. Michael Butter: »Nichts ist, wie es scheint«. Über Verschwörungstheorien, Suhrkamp Verlag, Berlin 2018, 113f.

[11] Eine bekannte Witz-Erzählung demonstriert die Logik, mit der Verschwörungstheorien auf zweifelnde Fragen und Gegenbeweise reagieren: »Warum haben Elefanten rote Augen?« »Weiss ich doch nicht!« »Damit sie sich besser in Kirschbäumen verstecken können.« »Aber ich habe noch nie einen Elefanten in einem Kirschbaum gesehen!« »Das siehst du mal, wie gut die sich verstecken können!«

[12] Rob Brotherton: Suspicious Minds. Why We Believe Conspiracy Theories, Bloomsbury Sigma, New York & London 2015, 223 – vgl. das ganze Kapitel, das sich mit der sogenannten »Confirmation Bias« auseinandersetzt: ebd., 221-239.

[13] Ebd.

[14] Vgl. sehr pointiert und mit Fokus auf die soziale Dimension unserer Erkenntnisansprüche: Heinzpeter Hempelmann: Faktisch, postfaktisch, postmodern? Kommunikation von Wahrheit(sansprüchen) in pluralistischen Gesellschaften als Problem und Herausforderung, in: Theologische Beiträge, 48 (2017), 19: »Erkenntnisansprüche haben immer auch eine soziale Dimension. Wir definieren uns über unsere Theorien; wir bedeuten etwas, wenn unsere Theorien Bedeutung haben. Wir definieren unsere Bedeutung über die Geltung unserer Theorien. Wir haben im Regelfall alles andere im Sinn, als unsere eigenen Anschauungen zu widerlegen. Würden wir uns damit nicht schwächen? Und spielt nicht auch Angst eine Rolle? Was passiert denn, wenn ich einen Irrtum oder Fehler zugebe? Schwäche ich mich damit nicht?«

[15] Vgl. auch den ausdrücklichen Hinweis bei Brotherton darauf, dass zwischen der Ausprägung der »confirmation bias« und dem Intelligenzquotienten keine Korrelation besteht: Rob Brotherton: Suspicious Minds. Why We Believe Conspiracy Theories, Bloomsbury Sigma, New York & London 2015, 239: »Why do we have such a hard time changing our minds? It’s not because we’re stupid. Studies have found no relationship between intelligence and susceptibility to confirmation bias. Neither is it because we’re simply ill-informed. You might expect that the biggest differences of opinion would be found among people who know the least about the topic in question, but in fact, it‘ s people who are the most scientifically and politically knowledgeable who tend to be the most polarized on topics like the reality of climate change and death panels. Our beliefs come first; we make up reasons for them as we go along. Being smarter or having access to more information doesn’t necessarily make us less susceptible to faulty beliefs. Sometimes it just makes us better able to explain away unpalatable facts.«

[16] Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt am Main 1967.

[17] So zu Kuhn: Wolfgang Stegmüller: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Band 2: Theorie und Erfahrung, Berlin/Heidelberg/New York 1973, 155; Kuhn selbst hält fest, dass »kein Prozess der wissenschaftlichen Entwicklung, der bisher durch historische Studien aufgedeckt worden ist, […] irgendeine Ähnlichkeit mit der methodologischen Schablone der Falsifikation durch unmittelbaren Vergleich mit der Natur« habe (ebd., 161: Übersetzung der englischen Ausgabe von Thomas S. Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions, 77). Vgl. hierzu den Aufsatz von Heinzpeter Hempelmann: Das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens in seiner Konkurrenz zu anderen Paradigmen der Welterfassung, in: ders.: Die Wirklichkeit Gottes. Band 1: Theologische Wissenschaft im Diskurs mit Wissenschaftstheorie, Sprachphilosophie und Hermeneutik, Neukirchen-Vluyn 2015, 133-154; hier v.a. 139f. Auch Michael Butter macht auf die Veränderungsresistenz von Forschenden im Wissenschaftsbetrieb aufmerksam: Michael Butter: »Nichts ist, wie es scheint«. Über Verschwörungstheorien, Suhrkamp Verlag, Berlin 2018, 54f: »Es mag nicht dem Idealbild von Wissenschaft entsprechen, aber in der Praxis haben auch seriöse Wissenschaftler mitunter grosse Schwierigkeiten zu akzeptieren, dass ihre Ideen widerlegt worden sind. Auch sie halten bisweilen an ihren Ansichten fest, obwohl die Fakten gegen sie sprechen, und verhalten sich somit nachgerade irrational.«

Alle Beiträge zu «Verschwörungstheorien»

2 Kommentare zu „Verschwörungstheorien [Teil 3] – Eine Bauanleitung.“

    1. Danke für die Rückmeldung! Hm. Warum denn nicht? Der Beitrag ist ja Teil einer ganzen Reihe von Beiträgen, mit denen ich versucht habe, mich dem Phänomen Verschwörungstheorien im Kontext von Corona fair und eingehend zu nähern…

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